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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman
Autoren: Aufbau
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    Penelope fror. Der Heißwasserbottich stand unter Gwyneths Stuhl. Es gab nur einen, den sie sich teilen mussten. Jeden Tag bekam ein anderes Mädchen ihn unter den Rock geschoben, um sich aufzuwärmen. Penelope war am Morgen an der Reihe gewesen. Sie genoss die warmen Beine, aber sie wusste auch, wie schnell man sich an demheißen Metallbottich verbrühen konnte. Die Kälte war längst zurückgekehrt. Penelope drückte ihre Hände verstohlen zwischen die Rockfalten und rieb sie aneinander, bis die Steifigkeit aus den Gelenken wich. Mit steifen Fingern häkelte man unregelmäßig, was den Preis der Spitze minderte.
    Irgendwelche Fehler in der Ware sah Madam Harcotte überhaupt nicht gerne. Sie trug den hugenottischen Namen ihres verblichenen Großvaters mit Stolz und runzelte indigniert die Stirn darüber, wie diese Briten den Namen verhunzten, und selbstverständlich kannte sich niemand mit Spitze und Seide so gut aus wie sie, eine echte Lyoneserin. Dass sie kein Wort französisch sprach und nicht einmal einen französischen Akzent hatte, war möglicherweise nur Penelope aufgefallen, die von Serge, dem jakobinischen Schneider an der Ecke, ein paar Sätze aufgeschnappt hatte. Aber Madam Harcottes Geschmack für Leinen und Spitze war gewiss französisch. Das fanden jedenfalls ihre Kunden.
    Madam Harcotte schwirrte mit ihrer Petroleumlampe wie ein aufgeregter Falter durch den Raum, sammelte heruntergefallene Garnrollen auf, schimpfte über Unordnung und trieb die Mädchen zur Eile an. Wo es ihr nötig erschien, tat sie das auch mit Kopfnüssen, und dann wippten die Mädchen wie Fadenpuppen vor und zurück und verkniffen sich jeden Laut, weil der nur eine noch schmerzhaftere Kopfnuss nach sich ziehen würde.
    »Faule Gören seid ihr«, schimpfte Madam Harcotte, »nie zuvor hatte ich solch faules Volk in meiner Werkstatt sitzen, ihr ruiniert mich, ihr verdammten Gören, nie werde ich diesen Mist verkaufen können, den ihr hier herstellt, nie.«
    Penelope ärgerte sich über solchen Unfug. Madam Harcotte verkaufte die filigranen Spitzenkrägen, die von den sechs Mädchen in ihrer Obhut angefertigt wurden, an Damen des Adels und stellte überall ihren Stolz darüber zur Schau, dass man die Qualität in der ganzen Stadt lobte. Es hatte eine Weile gedauert, bis Penelope klargeworden war, dass das Geschimpfe offenbar zu einer Häkelwerkstatt gehörte. Andere Aufseherinnen schimpften ebenfalls, wie ihr zu Ohren gekommen war, und benutzten den Rohrstock noch ausgiebiger. Es gab in Londons Werkstätten unzählige Spitzenhäklerinnen, undkeine von ihnen würde es wagen, sich über ihr Los zu beklagen und darüber die Arbeit zu verlieren. Lag man einmal in der Gosse, war es schwer, einen neuen Arbeitsplatz zu finden.
    Bevor Madam Harcotte an ihrem Stuhl angekommen war, hatte Penelope ihre Arbeit wieder zwischen den Fingern und stichelte sich mit der feinen Häkelnadel durch die Maschen. Sie achtete darauf, dass sich der Kragen in seiner ganzen Pracht über ihren Rock breitete, um der Kritik vorzubeugen dass sie getrödelt hatte. Eine Luftmasche, eine ganze Masche, eine halbe zurück, eine ganze vor … Ihr war immer noch kalt. Heißen Tee gab es erst zum Abschluss des Tages, und auch nur, weil Madam Harcotte es genoss, von Reverend Arnold in der Predigt als gottesfürchtige und gutherzige Arbeitgeberin gelobt zu werden – eine, an der man sich ein Beispiel nehmen müsse. War er mit seiner Predigt fertig, senkte sie den Kopf, damit man unter ihrem Hut nicht sah, wie sie selbstgefällig lächelte. Hin und wieder kochte sie an Samstagen eine dünne Hafersuppe, wenn sie fand, dass die Mädchen zu blass aussahen und zu langsam arbeiteten. Der Suppe fehlte jedes Salz, weil das zu teuer war, und nur an Weihnachten zierte mit Zimt vermischter Zucker den Topfinhalt. Trotzdem schaufelten die Häklerinnen ihn schweigend und hastig herunter. Es galt, Mahlzeiten mitzunehmen, wo auch immer sie geboten wurden.
    Penelope mochte dennoch lieber zu Hause essen. In ihren fünfzehn Lebensjahren hatte sie nur wenige Abendmahlzeiten ohne die Gesellschaft ihrer Mutter eingenommen, und sie wusste, dass das bei manchen Freundinnen anders war. Vieles war anders geworden, seit die Welt da draußen nur noch aus dem französischen Kaiser Napoleon und seiner Kontinentalblockade zu bestehen schien, die Großbritannien von der restlichen Welt abtrennte. Die Blockade verteuerte das tägliche Leben und ließ die gefürchtete Armut immer näher rücken. Der
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