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Die Suendenburg

Die Suendenburg

Titel: Die Suendenburg
Autoren: Eric Walz
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was ich herausgefunden und was ich gelesen hatte. Meine Aufzeichnungen, die von Bilhildis und jene von Elicia befanden sich in meinem Besitz, und wenn man sie als drei Teile eines Ganzen las, waren sie Mosaiksteine eines Dramas, das nicht gut enden konnte. Ich hatte im September des letzten Jahres als sachlicher Richter die Reise hierher angetreten, und ich war innerhalb weniger Monate zum schicksalsgläubigen Fatalisten geworden – nicht ohne Grund.
    Ich öffnete die Tür zu Claires Kemenate. Langsam fächerte sich der Raum vor meinen Augen auf. Das Fenster war unbedeckt, ein Durchzug von Frühlingsluft ließ meine Haare und den Mantel wehen. Er brachte auch ein merkwürdiges, sirrendes Geräusch mit, das mich störte, sowie einen weißen Schmetterling, dessen eigenwilligem Flug mein Blick zunächst folgte.
    Der Mönch – Orendel – stand mit dem Rücken zu mir. Ich sah nur ihn, nicht die Gräfin. Er verharrte in einer eigenartigen Haltung vor dem Spiegeltisch, so als beuge er sich über den Stuhl oder über jemanden, der darauf saß.
    Ich ging auf leisen Sohlen in den Raum hinein, trat langsam auf Orendel zu, der sich noch immer nicht bewegte. Als ich nur noch zwei Schritte von ihm entfernt war, sah ich, wie seine rechte Hand nach unten sank. Die Finger umklammerten einen Dolch.
    Noch deutlich langsamer als zuvor, trat ich einen Schritt zurück, um Orendel und den Spiegeltisch seitlich zu umgehen und einen Blick auf den Stuhl werfen zu können.
    Dort saß Claire. Ihr Kopf lehnte an Orendels Hüfte, ihr Gesicht war zur anderen Seite gewandt, sodass ich nicht erkennen konnte, was mit ihr geschehen war.
    Meine Kehle war trocken und wund, als hätte es in ihr gebrannt. Ich brauchte eine Weile, bis ich fragte: »Was hast du getan?«
    Er hatte Tränen in den Augen, als er mich ansah und mir schließlich antwortete: »Ich dachte, sie hätte Bilhildis getötet.«
    »Nein«, sagte ich, »das hat sie nicht.« Ich wollte noch sagen: Das war ich, ich habe sie in die Tiefe gestoßen, und ich würde es wieder tun, jeden Tag aufs Neue, wenn das ginge. Sie war eine Zauberin, doch nicht Magie war ihre Waffe, sondern die Kenntnis, wie man in anderen Menschen liest und das Gelesene gegen sie verwendet.
    Ich hatte es ihm tatsächlich sagen wollen, diesem jungen Mann mit den wallenden Haaren, den ich nur aus einer Geschichte kannte, die ich gelesen hatte. Doch ich kam nicht dazu. Denn in diesem Moment wandte mir die Gräfin ihr Gesicht zu.
    »Darf ich vorstellen, Vikar, das ist mein Sohn«, sagte sie. »Sein Name ist Orendel. Er war lange fort.«
    »Gott sei gedankt, Ihr lebt«, rief ich erleichtert. »Ich dachte schon, Euer Sohn hätte …«
    »Ich wollte es«, sagte Orendel. »Ich hatte das Messer bereits an ihrer Kehle. Eine einzige Bewegung hätte genügt … Aber mein Arm war wie eingefroren. Ich konnte meine Mutter nicht töten. Sie wehrte sich nicht. Sie schrie nicht. Ich brachte es einfach nicht fertig. Nach allem, was Bilhildis mir erzählt hatte, nahm ich an, eine völlig andere Frau vorzufinden, eine Frau, die nicht mehr meine Mutter war. Aber sie war … sie war die gleiche Mutter, von der ich vor Jahren getrennt worden bin. Ich habe es gesehen, gespürt … Ihre Augen – ich habe ihre Augen im Spiegel gesehen. Darin war Liebe, dieselbe Liebe von damals. Keine Spur von Bösartigkeit, Hass oder Kälte.«
    »Ich erwartete den Tod«, sagte die Gräfin. »Ich ergab mich dem Urteil. Der Hohn ist, dass genau diese Demut mich gerettet hat.«
    »Ich – ich brach zusammen«, gestand Orendel ein wenig beschämt.
    »Eine Schwäche, die Euch Ehre bringt«, sagte ich. »Was ist mit Aistulf? Ist auch er wohlauf?«
    Die Gräfin lächelte. »Ihm ist nichts geschehen. Orendel und ich – wir haben über alles gesprochen. Er hat mir erzählt, womit Bilhildis jahrelang seinen Geist gefüttert hat. Wir haben in der letzten Stunde viel zusammen geweint. Das soll für immer reichen.«
    Ich möchte auf die weiteren Einzelheiten jener Stunde nicht näher eingehen. Die Gräfin hatte sich einer Art Gericht unterworfen und war freigesprochen worden. Das nahm ich stillschweigend hin, mehr noch, ich konnte sie aufrichtig bewundern für einen Mut, den ich in dieser Form für meinen eigenen Fall nicht aufbrachte. Allerdings lag mein Fall ein wenig anders als ihrer, und meine Strafe war kurz zuvor bereits festgelegt worden.
    Ich bat die Gräfin um eine Unterredung unter vier Augen, und sie schickte Orendel zu seinem Stiefvater Aistulf, damit sie sich
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