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Die Stunde des Fremden

Titel: Die Stunde des Fremden
Autoren: West Morris L.
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haben, dessen Vater Sie dienten, dessen Haushalt Sie vorstanden und dessen Ehre Sie durch einen Mord zu retten versuchten, daß dieser Mann Ihre eigene Tochter zu seiner Geliebten gemacht hat. Er hat es nicht einmal heimlich getan. Ihr Bild ist mit vollem Namen in der Presse veröffentlicht worden. Die Männer, die solche Dinge schreiben, haben Sie zum Gespött der Welt gemacht. Fragen Sie Ihre Tochter selbst, wenn Sie mir nicht glauben wollen.«
    Doch war es nicht nötig, Elena zu fragen. Sie hockte kreidebleich, eine verkrampfte Hand vor den halboffenen Lippen, zusammengekauert in ihrem Stuhl. Einen Augenblick lang schien es, als wollte der Alte sich auf sie stürzen.
    Doch der Augenblick verging. Die Zeitungsausschnitte entfielen seiner zitternden Hand und flatterten auf den Serviertisch. Langsam wandte er sich um und hob sie auf. Eine Weile stand er da, gebeugt und unsicher. Dann richtete er sich auf. Sein Mund war hart, sein Gesicht entschlossen. Als er sich umwandte, sahen sie in seiner Linken das Bündel Papier und in der Rechten das kurze, blitzende Messer, mit dem er die Zitronen geschnitten hatte.
    Mit langsamen, gemessenen Schritten ging er auf Orgagna zu. Der Herzog erhob sich. Man hätte die beiden für Vater und Sohn halten können, wenn nicht die Kleidung des Jüngeren seinen Rang verraten hätte, während der Ältere die Livree eines Dieners trug.
    Niemand rührte sich. Nicht einmal Inspektor Granforte. Sie waren Zuschauer im Parkett. Die Bühne gehörte den Schauspielern, die entrückt und unerreichbar den letzten Akt ihrer Tragödie spielten.
    Orgagna stand sehr gerade und sehr ruhig da. Die Arme hingen schlaff an seinen Seiten herunter, seine Smokingjacke war offen. Einen Schritt vor ihm blieb der Alte stehen und hielt ihm die Zeitungsausschnitte entgegen.
    »Eure Hoheit wollen mir bitte erklären«, sagte er mit düsterer Stimme, »ob all das wahr ist oder nicht. Und ich werde glauben, was Eure Hoheit sagen.«
    Orgagnas Züge waren steinern. Sein Blick schweifte über Carrese hinweg, über die anderen und über die getäfelten Wände des Zimmers in eine unsichtbare Ferne. Was mochte er dort entdecken? Die Ironie, die vor nichts haltmacht? Die letzte Wahrheit, die alle Lügen auslöscht?
    »Es ist wahr«, sagte er fest.
    In diesem Augenblick erkannten sie seine Größe.
    Eine lange Zeit geschah nichts. Im Gesicht des Alten zuckte kein Muskel. Die Augen auf seinen Herrn gerichtet, stand er aufrecht wie ein Fels. Dann öffnete er seine Linke, und die Ausschnitte flatterten zu Boden. Seine Lippen öffneten sich, und seine Stimme klang leise und traurig und doch furchtbar wie ein Trompetenstoß.
    »Schon immer, seit Sie ein Kind waren, habe ich versucht, Sie zu lehren, daß das Haus und der Name Orgagna über alles gehen. Halte das Haus hoch, und kein Sturm wird es vernichten können. Halte den Namen rein, und alle Hunde der Welt können dagegen anbellen. Ein Mann soll seine Sünden nicht in sein Haus lassen. Nur sein Glaube soll darin wohnen. Das habe ich Sie gelehrt, so wie mein Vater es mich gelehrt hat. Um das Haus zu retten und um Sie zu retten, war ich bereit, meines Weibes Sohn zu töten. Meine eigene Tochter habe ich Ihnen anvertraut. Auch die haben Sie zugrunde gerichtet, genau wie den Namen und wie das Haus.«
    Elena schrie auf, und die anderen erstarrten vor Entsetzen, als das Messer hochschoss, schnell und sicher, und dem Herzog ins Herz fuhr.
    Einen kurzen, flüchtigen Augenblick saßen sie vom Schreck gebannt, während Carrese riesenhaft und schrecklich über seinem toten Herrn stand. Dann stürzten alle gleichzeitig vorwärts. Granfortes scharfe Kommandostimme trieb sie auf ihre Plätze zurück.
    »Setzen Sie sich! Setzen Sie sich wieder! Alle!«
    Verkrampft auf den Rändern ihrer Stühle hockend, beobachteten sie ihn, während er sich über die Leiche beugte. George Harlequin ging unaufgefordert zur Tür und verschloss sie. Dann zog er die schweren Vorhänge zu und schaltete das Licht ein. Noch einmal erstrahlte der Raum in dem barocken Glanz des uralten Namens Orgagna.
    Unbeweglich wie eine Statue stand der Alte mitten im Raum. George Harlequin nahm seinen Arm und führte ihn zu einem Stuhl, Granforte kniete über Vittorio Orgagna. Endlich richtete er sich auf. Sein rundes Gesicht war voll grimmiger Entschlossenheit.
    »Ich habe das erwartet«, sagte er langsam. »Oder doch so etwas Ähnliches. Ich wußte nicht, wie es dazu kommen oder was dazu führen würde. Ich konnte nur warten und
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