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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Und für einen langen, zauberhaften Moment ließ sie die Lippen dort verharren …
    »Verzeiht«, lächelte sie dann. »Nein. Verzeiht nicht, Nial …«
    »Christina! Um Himmels willen – dem Himmel sei gedankt! Christina lebt!«, schrie da eine Frau auf. Nial umrundete die letzten Ginsterbüsche, dann hatten sie das Schiffswrack erreicht, das sich wie durch ein Wunder nicht in den Felsen ein paar Steinwürfe weiter gebohrt hatte, sondern auf dem Ufersand auseinandergebrochen war. Christina vergaß, was noch vor wenigen Augenblicken geschehen war, vergaß den Kuss, den Mann – alles. Die Nacht hatte sich zurückgemeldet. Es war kein böser Traum gewesen, der Sturm nicht und auch nicht das Auflaufen des Schiffes.
    Da lag es, wie ein bizarr verdrehtes Mahnmal, um die Menschen daran zu erinnern, dass Gott der Allmächtige stark genug war, einen ganz normalen Junimorgen zum letzten Morgen im Leben zu machen, wenn Ihm danach war. Der Sturm hatte mitten in der Nacht gehässig Menschen über Bord gezogen und gegen Felsbrocken geschleudert, er hatte sie den hungrigen Wellen zum Fraß vorgeworfen und die Ertrunkenen hasserfüllt auf den Boden der Bucht gestampft, wo kein Gebet sie je erreichen würde. Sie erinnerte sich. Nachdem das Ruder zerbrochen und der Mast umgestürzt war und ein tiefes Loch in den Schiffsrumpf gerissen hatte, war auch sie über Bord gegangen – sie war geflogen, hatte kaum das Wasser berührt, und dann hatte die See sie auf eine fast fürsorgliche Art getragen, anstatt sie hinabzuziehen, und mit der nächsten Welle hatte es sie in das schlammige Schilfbett gespült. Sie hatte den Schatten des Schiffs noch gesehen, hatte gesehen, wie eine besonders heftige Bö es wie einen leblosen Kadaver ans Ufer geworfen hatte. Und dann ohrenbetäubendes Krachen, Splittern, endloses Ächzen. Schreie – auch daran erinnerte sie sich. Grässliche Schreie … Dann hatte sie das Bewusstsein verloren. »Allmächtiger«, flüsterte sie. Tröstend drückte der Mann sie und verlangsamte seine Schritte, als zögerte er, sie dem grauenvollen Bild zu übergeben.
    »Lasst mich, Nial.« Sie versuchte sich aus seinen Armen zu befreien, und behutsam stellte er sie auf den Boden, ganz dicht bei sich und ohne sie loszulassen, und sie war froh über diese tröstliche Nähe, während sie in stummem Entsetzen den verwüsteten Strand nach Schwester und Mutter absuchte. Bis zuletzt waren sie bei ihr gewesen – und dann auf einmal nicht mehr.
    Die Überlebenden lagen erschöpft zwischen Trümmern aus Planken, Kisten und Fässern. Hier und da verliehen angeschwemmte Kleidungsstücke dem schwarzen Ufer eine bizarre bunte Farbe. Ein Hund lief schnüffelnd von einem Stück zum anderen, Raben zankten sich mit Möwen um die Herrschaft über das Schlachtfeld. Noch konnte man sie von den Toten zurückhalten, doch lange würden sie sich von ein paar hilflos geschwungenen Holzstöcken nicht abwehren lassen, es waren viel zu wenig Helfer gegen die Aasfresser. Man hörte leises Weinen, manche jammerten vor Schmerzen. Ein Mann schrie heiser und reckte seinen blutüberströmten Armstumpf in die Luft, doch niemand war da, um ihm die Pein zu nehmen, er würde bis zum Ende aushalten müssen. Gott würde irgendwann vielleicht Mitleid mit ihm haben und ihn von seinen Schmerzen erlösen. Christina erkannte den Priester unter den Toten. Sein aufgedunsenes Gesicht hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem freundlichen Beichtvater von gestern. Von weiter hinten drang monoton aus Frauenkehlen das Paternoster. Überall rannten kopflos Menschen herum und konnten doch nichts gegen das Unglück ausrichten.
    »Allmächtiger«, flüsterte sie wieder und bohrte ihr Gesicht in Nials zerlumpte Kleider.
    Im nächsten Augenblick hatte die Frau Christina erreicht und riss sie schluchzend von ihm weg. Eine zweite stürzte herbei, trat an ihre andere Seite … bei Gott, Christina war klein und zart wie ein Kind, sie ging den Frauen nur bis zur Schulter … aber er hatte kein Kind in den Armen gehalten. Er wusste, wie willige Frauen sich anfühlten, zum Teufel, das wusste er nur zu gut. Hungrig sah er ihr hinterher, kämpfte gegen den Wunsch, ihr nachzulaufen. Dann sah er nur noch wehendes Frauenhaar zwischen flatternden Mänteln – weißblondes, langes Haar, das im schüchternen Morgenlicht unschuldig leuchtete, und er hörte, wie sie in den Armen der anderen weinte. Er blieb zurück, allein dem heftigen Wind des Nordens ausgeliefert, der ihn dafür strafte, das zu begehren,
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