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Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Die Stunde der Seherin - Historischer Roman

Titel: Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Vater Edward auf den angelsächsischen Thron zu führen, weil der amtierende König kinderlos und siech war, war der Vater ganz ruhig geblieben. Er hatte seine Dinge in Meksnedad geordnet und seine Familie so souverän auf die große Reise nach England geführt, dass Christina niemals Angst gehabt hatte, obwohl man ihnen gesagt hatte, dass sie ihre ungarische Heimat nicht wiedersehen würden. Sie erinnerte sich noch an die endlose Reise durch die deutschen Wälder, an Übernachtungen auf düsteren Burgen und in schmutzigen Herbergen, an Pferdewechsel, Diebstahl und auseinanderbrechende Sänften. An die tapfere Mutter, die ihren Jüngsten, Christinas Bruder Edgar, stets selbst auf dem Pferd getragen hatte, statt ihn der Amme zu überlassen. Die niemals geklagt hatte, wie beschwerlich der Ritt auch gewesen war. Selbst an die Namen von untreuen Dienern konnte sie sich erinnern und an die Lieder, mit denen Katalin sie Abend für Abend in den Schlaf gesungen hatte. Und immer wieder an den Vater, der alles mit Ruhe und Übersicht arrangiert und immer noch Zeit für einen Scherz gehabt hatte …
    Er war an einem Fieber gestorben, kaum dass sie London erreicht hatten. Als ob seine unerschöpfliche Kraft auf einmal aufgebraucht gewesen wäre. In nur einer Nacht war er krank geworden und gestorben. Sie hatten bleiben dürfen, Agatha und seine drei Kinder. Man hatte sie auf Geheiß des siechen Königs standesgemäß untergebracht, es hatte ihnen in all den Jahren an nichts gefehlt.
    Nach dem Tod des alten Königs hatte der neue Herrscher Harold Godwinsson seine Hände über die ungarischen Æthlings gehalten und weder versucht, die beiden Mädchen zu verheiraten, noch Edgar nach dem Leben getrachtet, wie Katalin prophezeit hatte. »In Ungarn würde man den Jungen töten«, hatte sie immer gemurmelt. »Hier wird man ihn auch töten, was seid ihr so leichtsinnig, ihr müsst ihn wegschicken, in Sicherheit bringen, man wird ihn töten …« Doch nichts dergleichen geschah, der Junge wurde seinem Rang gemäß erzogen, und Christina und Margaret durften die Klosterschule von Wiltham besuchen.
    Dann kam Wilhelm aus der Normandie, und Katalins Prophezeiungen wurden immer düsterer. »Edgar ist von angelsächsischem Königsblut«, hatte sie immer geraunt. »Er wird deshalb sterben!« Wieder irrte die Amme sich. Wilhelm gab dem Jungen Schwert und Pferd und ließ sich von ihm sogar in die Normandie begleiten. Vielleicht hatte das Edgars Ehrgeiz genährt, sich doch noch die Krone zu holen, die sich der Vater nicht mehr hatte aufsetzen können. Christina spielte mit ihrem Zopf – jedes Haar war eine Erinnerung, ihr Kopf war so voll davon, und sie wünschte sich an einen Ort, wo sie ihre Erinnerungen in Ruhe zählen und ordnen konnte.
    Doch den gab es hier noch weniger als anderswo, denn Margaret holte sie in die Realität zurück: »Wenn Vater den Thron bestiegen hätte, wärst du jetzt die Frau eines zerknitterten alten Earls und hättest einen dicken Bauch vom Kinderkriegen.« Die Schwester hielt inne. »Und ich vermutlich auch«, flüsterte sie zaghaft.
    Christina streichelte ihr das Haar und zog sie dichter an sich. Seit Kindertagen war es Margarets Wunsch gewesen, den Schleier zu nehmen und in ein Kloster zu gehen. Sie hatte die Ordnung und den Frieden in dem Konvent geliebt, wo sie beide erzogen worden waren. Die Überschaubarkeit des Tages. Den Frieden, den Sprachen, Arithmetik und das Niederschreiben heiliger Texte vor dem Schüler ausbreiteten. Die Reinheit der kostbaren Leintücher, in die sie heilige Muster stachen, damit sie Altäre schmückten.
    Christina hatte sich oft gelangweilt und Gebetsstunden geschwänzt und war dafür bestraft worden – sie kannte auch die andere Seite des Konventlebens. Unerbittliche Benediktinerinnen, Strafpredigten, den Rohrstock. Das Hungern für die Disziplin, die ihr so schwerfiel. Doch sie schwieg, weil sie wusste, dass Margaret davon nichts hören wollte. Disziplin war für die Schwester nie so ein Feind gewesen wie für sie.
    »Was wohl jetzt wird, Magga?«, wisperte sie stattdessen.
    Margarets Finger stahlen sich in ihr lockiges Haar und begannen damit zu spielen. »Mutter will so gerne nach Ungarn zurück«, kam es sehr leise. »Edgar ist unschlüssig, was er tun soll. Ich hörte, wie Edwin von Mercia ihm Mut machte, als ich die Halle verließ. Aber, Stina – an dem Tag, als er sich entschied, London zu verlassen und Wilhelm als Gegner zu betrachten, hat er uns heimatlos gemacht. Das war
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