Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stumme - La Muette

Titel: Die Stumme - La Muette
Autoren: Chahdortt Djavann
Vom Netzwerk:
deinen Aufgaben übergeben.«
    Ich beachtete ihn einfach nicht. Darauf wiederholte er Wort für Wort, was er eben gesagt hatte.
    Dann entgegnete ich: »Ich weiß nicht, warum ich mich um eine alte Frau kümmern soll, die ich nicht einmal kenne.«
    »Und ob du sie kennst; sie ist meine erste Frau, und du bist verpflichtet, dich um sie zu kümmern, weil du ihren Platz eingenommen hast.«
    »Ihren Platz? Welchen Platz?«
    »Vor dir war sie es, die das Lager mit mir geteilt hat.
Also rate ich dir, dich nun um sie zu kümmern, sonst wird dein Ungehorsam Folgen haben.«
    »Ich bin niemandes Dienstmädchen.«
    »Ist das dein letztes Wort?«
    »Nein, ich füge dem noch hinzu, dass Sie ein Mörder sind, Sie haben meine Tante umgebracht, Sie haben mich geraubt, mich vergewaltigt … Sie sind nichts als ein …«
    Bevor ich meinen Satz beenden konnte, kam er auf mich zu, hinter ihm tauchte Zahra auf. Er nahm ein Kopfkissen und drückte es mir auf den Mund, damit ich nicht schreien konnte. Sie trugen mich aus dem Zimmer und die Treppen hinunter. Der Mullah knebelte mich, fesselte meine Hände hinterm Rücken und sperrte mich in den Keller. Ich saß im Dunkeln. Nach einigen Minuten spürte ich, wie mir eine Schabe über den Fuß krabbelte, ich wäre vor Angst bald gestorben. Mit einer hektischen Bewegung stieß ich sie fort; ich brüllte aus Leibeskräften, aber meine Stimme wurde von dem Knebel erstickt, den ich im Mund hatte. Ich verbrachte die halbe Nacht damit, die Schaben im Auge zu behalten und sie von mir wegzustoßen.
    Am nächsten Tag weckte mich Licht, als der Mullah die Tür öffnete. Er war zum Mittagessen nach Hause
gekommen und fragte mich, ob ich gehorchen oder lieber ein paar weitere Nächte im Keller verbringen wolle. Ich nickte. Darauf nahm er mir den Knebel ab und band meine Hände los.
    Darauf führte er mich ins Zimmer seiner ersten Frau. Zahra zeigte mir, was ich zu tun hatte. Ich musste ihr dreimal am Tag die Windeln wechseln und machte mich ans Werk. Der Gestank bereitete mir Übelkeit. Am Abend bat ich den Mullah um Handschuhe und eine Maske. Er sagte, ich würde sie bald bekommen. Am nächsten Morgen, als ich mein Zimmer verließ, lagen sie vor der Tür.

D er Sommer neigte sich dem Ende zu. Ich durfte nicht mehr zur Schule weil ich verheiratet war, und Abendkurse zu besuchen erlaubte mir der Mullah nicht. Er sagte, ich könne zu Hause lernen, und brachte mir ein kleines Lexikon und religiöse Bücher. Ausgehen durfte ich nicht. Die Tür blieb verschlossen, Zahra trug den Zweitschlüssel immer an ihrer Brust.
    Gelegentlich kam meine Mutter mich besuchen. »Ich bin beruhigt, dass es dir an nichts fehlt, wie ich sehe, wirst du vom Mullah und seiner Frau gut behandelt«, wiederholte sie jedes Mal. Sie erzählte mir, dass der Mullah seit dem Tod meines Vaters ihr ein wenig half, über die Runden zu kommen. Damit sie sich nicht schämen musste, fügte er hinzu, als ihr Schwiegersohn erfülle er nur seine Pflicht. Sie sagte, sie fühle sich sehr einsam. Nachdem mein Onkel aus dem Gefängnis gekommen war, hatte er die Stadt verlassen, ohne sich von ihr zu verabschieden. Es war mir lieber, wenn sie nicht kam. Sie zu sehen tat mir weh.

    Ich dachte noch immer an Flucht, oder, besser gesagt, ich träumte davon zu fliehen, aber ich wusste nicht wie. Ich fühlte mich verantwortlich für den Tod der Stummen und empfand mein Leben als verdiente Strafe. Mit dem Schmerz büßte ich für meine Fehler. Die Jugendliche von dreizehn Jahren war mir inzwischen fremd geworden. Der Mullah kam jede zweite Nacht in mein Zimmer. Ich kümmerte mich um seine erste Frau, putzte die Toiletten und verbrachte viel Zeit allein in einer Ecke; und ich las im Wörterbuch.
     
    Da ich gehängt werde, will ich die Wahrheit sagen. Obwohl ich es mir nicht eingestehen wollte, gefiel es mir, das Geschlecht des Mullahs in meinem zu spüren. In der zweiten Nacht, als er im Halbdunkel in mich eindrang, erzitterte ich und empfand voller Scham und Schuldgefühle einen ungeahnten Genuss. Ich verbarg immer noch das Gesicht unter der Decke, um seinen Atem nicht riechen zu müssen, und biss ins Kopfkissen, damit er mich nicht hörte. Sobald er mein Zimmer verlassen hatte, um sich in sein Büro zu legen, machte ich mir Vorwürfe. Ich verachtete mich. Er hatte die Stumme aufgehängt. Ich fühlte mich schmutzig,
schuldig, wie eine Hure. Mein Hass richtete sich gegen mich selbst.
    Nach sechs Monaten wurde ich schwanger. Ich war die ganze Zeit über krank,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher