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Die Straße nach Eden - The Other Eden

Titel: Die Straße nach Eden - The Other Eden
Autoren: Sarah Bryant
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flüsterte Mary mir ins Ohr. Sie war gleichfalls aufgestanden. Die Leute um uns herum zischten uns zu, wir sollten uns wieder hinsetzen. Ihr Arm lag so zart wie ein Vogelflügel und doch warm und tröstlich um meine Schulter. »Fühlst du dich nicht wohl?«, fragte sie, dabei drückte sie mich sacht auf den Sitz zurück. Der Klang ihrer Stimme und ihre vertraute Gegenwart bewirkten, dass mein Kopf etwas klarer wurde. Ich holte tief Atem und flüsterte ihr zu, dass mir nichts fehlte, obwohl mich die Panik immer noch zu überwältigen drohte. Dann schloss ich die Augen und versuchte die Atmosphäre im Saal auszublenden. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass sie sich verändert hatte und Musik die entstandene Lücke füllte.
    Alexander Trewoschow begann die Ballade auf eine sehr ungewöhnliche Weise. Er spielte die einleitenden Töne nicht wie vorgeschrieben forte und pesante, sondern so leise, dass sie fast unhörbar waren. In jedem anderen Konzert wäre dies auch der Fall gewesen, aber diese unerwartete Zurücknahme hatte zusammen mit seiner faszinierenden Ausstrahlung zu absoluter Ruhe im Saal geführt. Allmählich konnte ich verstehen, warum die Kritiker ihn mit Lob überhäuften.
    Ich schlug die Augen nicht wieder auf, aber ich lauschte konzentriert. Es war unmöglich, sich dieser Musik zu entziehen, sie fesselte mich, so wie sie auch alle anderen Zuhörer fesselte. Die Spannung, die sich während Mr Trewoschows langem Zaudern aufgebaut hatte, war noch nicht abgeflaut, sondern schien mit den Klavierklängen zu
verschmelzen, bis die vertraute Melodie völlig fremdartig klang.
    Seine Technik war perfekt, aber der Schmerz, den jeder Ton verströmte, ging weit über die klagende Melancholie hinaus, die Chopin diesem Stück verliehen hatte. Ich wollte, dass die Musik verstummte, und wünschte mir zugleich, sie würde nie enden. Der Drang, die Flucht zu ergreifen, peinigte mich immer noch, aber gleichzeitig verspürte ich das lächerliche Verlangen, zu ihm hinzulaufen. Nachdem die letzten Akkorde verklungen waren, dauerte es einen Moment, bis mir bewusst wurde, dass wir alle einige Sekunden lang in völliger Stille dagesessen hatten - was in diesem Saal noch nie vorgekommen war und vermutlich auch nie wieder vorkommen würde.
    Die Stille hielt an, dann brandete plötzlich ein ohrenbetäubender Beifall auf, gefolgt von Standing Ovations. Doch ich vermochte weder zu klatschen noch mich von meinem Sitz zu erheben, ich konnte nur wie gelähmt auf den Lichtkegel auf der Bühne starren. Dieses eine Mal war ich mir meiner eigenen Person überhaupt nicht bewusst, ich merkte nicht einmal, dass mir Tränen über die Wangen liefen. Mein Großvater musterte mich besorgt. Mary warf mir einen triumphierenden Blick zu.
    »Findest du immer noch, dass das das Beste ist, was ein im Sterben liegender Mann hervorbringen konnte, Liebes?«, fragte sie.
    Obwohl ich wusste, dass dies ihre Art war, mir zu verstehen zu geben, dass ich noch längst nicht alles wusste, was es zu wissen gab, schüttelte ich den Kopf.
    »Nein«, erwiderte ich weich, aber mit mehr Inbrunst, als ihr milder Spott verdiente. »Es ist nicht die Musik. Er könnte Tonleitern spielen, der Effekt wäre derselbe. Das ist kein gewöhnlicher Mann dort auf der Bühne. Seine Musik ist nicht menschlich.«

    Ehe sie antworten konnte, begann Mr Trewoschow erneut zu spielen, diesmal Debussy. Wieder lauschte ich nahezu unirdischen Klängen, die mit den Noten des Komponisten kaum noch etwas gemein zu haben schienen. Viel zu bald wurde die unglaubliche Musik erneut von Applaus verschluckt.
    Als das Konzert zu Ende war, bestand ich darauf, ihn persönlich kennen zu lernen, aber um seine Garderobe drängte sich bereits eine dichte Menge. Mary und mein Großvater wollten gehen; sie klagte über Müdigkeit, er über Schmerzen in Brust und Armen. Widerwillig gab ich nach, drehte mich jedoch noch ein letztes Mal zu Mr Trewoschow um. Durch Zufall oder dank der hilfreichen Hand des Schicksals wandte er sich ebenfalls um. Sein Blick haftete einen Moment lang auf der gebrechlichen Gestalt meines Großvaters, dann wanderte er zu mir. Nachdem er sich von einer unerklärlichen Überraschung erholt zu haben schien, lächelte er. Dann machte er eine Geste, als bedeute er uns, uns zu ihm durchzudrängen, doch im selben Augenblick trat mein Großvater zwischen uns und versperrte mir den Blick auf ihn.
    »Das Auto wartet, Eleanor«, sagte er. Die stählerne Autorität in seiner Stimme duldete
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