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Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi

Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi

Titel: Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi
Autoren: Anne Kuhlmeyer
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die ganze Geschichte erzählen, schließlich war er von Berufs wegen Geschichtenanhörer. Aber er würde sie nur wieder fragen, was sie wollte, und darauf wusste sie keine Antwort.
    Mittlerweile spielte Miles Davis »Bitches brew«, ein langes, unruhiges Instrumentalstück. Was richtig und was falsch ist. Mutter hatte erst eine ganze Weile nach Julias Geburt geheiratet. Johanna hatte Ruth immer gedrängt, ihren Namen beizubehalten, wenigstens den Namen, wenn schon alles verloren gegangen war. Das Leben, die Menschen, Dinge … Yad Vashem. Irgendwie hatte Ruth das verstanden und sich in einer Zwickmühle wiedergefunden:Johanna wollte ihre Tochter verheiratet sehen, aber den Namen ihres Mannes bewahren. Irgendwann hatte Vater sich breitschlagen lassen, als gemeinsamen Familiennamen Morgenstern zu wählen, aber er hatte es Mutter übel genommen, und Großmutter, die bei ihnen wohnte. Nach der Hochzeit hatten sie nie wieder darüber geredet. Nur der Name blieb. Ein kleiner Stachel, der ins Schweigen stach. Was richtig und was falsch ist. Eine andere Zeit.
    Julia stellte die Flasche weg und fuhr zu Bayer. Der Regen tropfte von den Apfelbäumen, die Dahlien neigten ihre Köpfe. Julia hatte nicht geklingelt, sondern ging den Pfad neben dem Haus entlang in den Garten. Sie traf den alten Mann in eine Decke gehüllt auf seiner hell erleuchteten Terrasse an, auf seinem Schoß ein aufgeschlagenes Buch und eine Lupe, neben seinem Stuhl ein Bücherstapel.
    »Frau Morgenstern.«
    »Herr Bayer.«
    Er rappelte sich in eine sitzende Position und bot ihr Platz an. Julia versenkte ihr Gesicht in den Händen, fühlte einen Schweißfilm auf der Stirn.
    »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagte sie und redete die Geschichten auf den Tisch, die von Johanna und Isaak, von Mutter und Vater, von Rasid Chalid, von Rose Lux, von der Ausländerbehörden-Piotrowsky, von den Bildern, die ein Eigenleben in ihrem Hirn führten und ihre eigenen, wider­sinnigen Geschichten erzählten. Dann faltete sie die Blätter auseinander, die sie mitgebracht hatte.
    Leipzig, den 24. August 1943
    Johannas Geburtstag. Wie gerne würde ich sie in die Arme schließen. Aber es ist gut so, dass sie nicht mehr herkommt. Vor drei Tagen haben sie Karl mitgenommen. Ich hörte Poltern und Stimmen. Er hat nichts gesagt, Grete hat geweint. Heute Morgen kam sie mit geröteten Augen und hat nur den Kopf geschüttelt, als ich sie gefragt habe, ob ich gehen solle. Johanna ist in Sicherheit, hat sie gesagt. Wie und wo wollte sie nicht verraten, um mich nicht zu beunruhigen, wie sie meinte. Wie könnte ich nicht beunruhigt sein? Ich mache mir Sorgen um Karl. Um Johanna. Um mich selbst, wenngleich das undankbar klingen mag.
    Sie müssen Karl wieder freilassen, sie haben nichts gegen ihn. Er hat einen Ariernachweis wie Grete. Ich weiß nicht, wie sie auf Karl gekommen sind. Ausgerechnet. Er hat sich nie etwas zu Schulden kommen lassen. Sie können ihm nichts. Vielleicht haben sie Johanna ins Haus gehen sehen. Doch warum haben sie sie dann nicht festgenommen? Oder haben sie? Wenn sie nur hier wäre! Natürlich ginge das nicht, die Lüftung reicht kaum für einen. Und in dieser dunklen Enge mit dem Kind …
    Als sie diesen letzten Satz ihres Großvaters vorgelesen hatte, sah sie in Bayers wasserhelle, aufmerksame Augen. »Ich weiß nicht, was ich machen soll, verstehen Sie?«
    »Ehrlich gesagt«, er machte eine Pause, »nein.«
    Julia fuhr hoch, ging unruhig zwischen den Pflanzkübeln auf und ab. »Ich kann doch nicht in einem System arbeiten, das so herzlos ist, die Mutter dieses toten Jungen in eine fragwürdige Zukunft abzuschieben, und dem es egal ist, was mit den Leuten wird. Oder in dem eine junge Frau verschwindet und niemand, die Arbeitskollegin mal ausgenommen, nimmt Notiz davon. Das kann ich doch nicht. Nach allem.«
    Bayer zündete sich einen Zigarillo an. »Und wer sagt, dass Sie das müssen?«
    »Aber ich habe doch nicht gewusst …« Plötzlich Enge in Julias Hals.
    »Dass man manchmal etwas tun muss, mit dem man nicht einverstanden ist?«
    Das nun wieder auch nicht, so naiv war sie nicht. Nur hatte sie nicht gedacht, dass es so weit gehen würde.
    Bayer blies Rauch in die feuchte Luft. »Es zwingt Sie niemand.«
    »Aber was soll ich denn sonst machen?« Hatte sie das nicht schon hundert Mal hin und her gewendet?
    »Es sagt keiner, dass die Alternativen einfach zu haben wären.«
    Na, toll. So weit war sie selbst gekommen.
    »Was hindert Sie denn mehr, eine
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