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Die spaete Ernte des Henry Cage

Die spaete Ernte des Henry Cage

Titel: Die spaete Ernte des Henry Cage
Autoren: David Abbott
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unsichtbar war).
    Häufig ging Henry in die Brasserie am Sloane Square, die um halb neun öffnete. Meist war er früher dort und lungerte im Eingang der nahegelegenen U-Bahn -Station herum, statt sich in die Schlange einzureihen und damit als einsam, arbeitslos oder geschieden erkannt zu werden. Allerdings, das musste er reumütig eingestehen: Das alles traf auf ihn zu.
    Nun, da er so viel Zeit hatte, ertappte er sich dabei,wie er beim Frühstück herumtrödelte – manchmal blieb er eine Stunde oder noch länger. Er wusste, dass er nicht nur die anderen Kunden belauschte, er starrte sie auch häufig an – ausnahmslos Frauen. Hätte man ihn zur Rede gestellt, hätte er erklärt, dass seine Blicke ganz unschuldig seien – er beobachte nur, er mache sich nicht an sie heran. So war ihm zum Beispiel aufgefallen, dass Frauen bei der Begrüßung stets etwas am Aussehen der anderen zu bewundern fanden – »Also, das …« – ein Fingerzeig zu dem Halsband mit einem grob geschnitzten hölzernen Gänseblümchen als Anhänger –, »das ist ja wundervoll.« Im Gegenzug fand dann die Gänseblümchenträgerin das Halstuch ihrer Freundin »göttlich, eine fantastische Farbe«.
    Waren sie ehrlich? Das schien unwahrscheinlich, auch wenn Henry sicher war, dass sie von dem ehrlichen Wunsch geleitet wurden, etwas zu finden, das ihnen gefiel. Hätte sich die Halstuchträgerin gefreut, wenn ihre Begleiterin die Gänseblümchenkette abgenommen und sie ihr geschenkt hätte? Sie gefiel ihr eigentlich gar nicht, da war sich Henry sicher. Er hatte sie beim Zeitunglesen beobachtet, während sie auf ihre Freundin wartete, und offenkundig konnte sie noch immer sehr gut sehen.
    Auf dem Heimweg wirkten die Vorboten von Weihnachten als tägliches Depressivum. Für ihn war das Fest eine Zeit größter Isolation, und nun, ohne die kleinste Bürofröhlichkeit, kam er sich wie ein völliger Außenseiter vor. Drei Tage vor Weihnachten, ganz nach Plan, entfloh er dem Trubel. Seit der Scheidung hatte Henry die Feiertageauf Barbados verbracht. Jahr für Jahr bezog er dieselbe Suite im selben Hotel, kam angeflogen und reiste eine Woche später wieder ab. Er hatte bislang noch nichts von der Insel mitbekommen, nur das, was man durch die Fenster des Wagens mit Klimaanlage sehen konnte, der ihn vom Flughafen zum Hotel und zurück brachte.
    In seinem Koffer befand sich nur wenig Kleidung; schwer war er von den Büchern. Henrys große Sorge war, irgendwo ohne Lektüre zu stranden – also nahm er zu ein paar Neuerscheinungen stets auch ein paar Favoriten mit, Bücher, bei denen er wusste, dass er sie gern noch einmal lesen würde, falls ihn die neuen Titel enttäuschten.
Light Years
von James Salter hatte Henry immer dabei, und er packte auch William Maxwells
The Chateau
jedes Mal mit ein. So war sogar Weihnachten erträglich.
    Am großen Abend selbst bestellte er sich das Essen aufs Zimmer und vermied so die Papierhüte und Feierlichkeiten im Terrassenrestaurant. Sein Zimmer, das sich im obersten Stock eines flachen Plantagenhauses mit Blick auf den Swimmingpool befand, hatte eine Eckveranda, die Schatten und eine schöne Aussicht bot. Henry wachte gegen sechs Uhr auf und beobachtete die frühmorgendlichen Schwimmer und kurz danach die Liegestuhlhüter mit ihren Gebietsansprüchen aus Handtüchern und Taschenbüchern. Zu früheren, finanziell weniger rosigen Zeiten wäre er wohl einer von ihnen gewesen, doch nun stand er buchstäblich über solchen Dingen. Er blieb den ganzen Tag auf seiner Veranda und ging nur zu den Mahlzeiten nach unten.
    Die Gäste bekamen für die Dauer ihres Aufenthaltes Tische auf der Terrasse zugewiesen. Diese Plätze blieben einem für diese Zeit garantiert. Die Terrasse hatte, wie das nun mal so ist, ihr Sibirien und ihren Platz an der Sonne. Ganz allgemein galten die Tische um die Tanzfläche herum als die begehrtesten, sie waren geschützt, aber nahe am Wasser. Henry, der gern im Hintergrund saß, war begrüßt worden wie ein Mann, der zum Schlussverkauf kommt und darauf besteht, den vollen Preis zu zahlen; man hatte ihn mit großem Pomp an einen der Katzentische geführt. Von dort aus konnte er seine Mitgäste beobachten, auch wenn er nicht immer das leise Schmachten der nächtlichen musikalischen Untermalung mitbekam.
    Eines Abends blieben Ken und Daphne, ein englisches Paar, an Henrys Tisch stehen, um zu grüßen. Kaum hatten die beiden begonnen, das Wetter des Tages zu kommentieren, als sie sich plötzlich unterbrachen.
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