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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel
Autoren: Kevin Powers
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er mit Handschellen unter seinem Mantel hantierte. »Keine Sorge, John«, sagte er. »Vertrauen Sie mir.«
    »Das sind doch alles Lügen.«
    »So ist das nun mal, mein Junge. Irgendjemand muss sich wenigstens für einen Teil der Scheiße verantworten.«
    »Und Scheiße rollt immer bergab, Captain, was?«
    »Die Scheiße ist überall am Dampfen. Ist ein beschissener Krieg. Sind Sie so weit?«
    Ich streckte ihm die flachen Hände hin, und er schloss die Handschellen um meine Handgelenke. »Machen Sie sich keine Sorgen«, wiederholte er.
    »Ich wünschte nur, dass mehr davon wahr wäre«, sagte ich.
    »Ich auch. Aber es sind Lügen dieser Art, die dafür sorgen, dass die Welt sich weiterdreht.«
    »Darf ich etwas mitnehmen?«
    »Meinetwegen. Aber man wird es Ihnen abnehmen, sobald wir da sind.«
    »Macht nichts.« Ich holte meine Casualty Feeder Card und die von Murph, steckte beide hinter den elastischen Bund meiner Boxershorts.
    Er führte mich durch die feuchte Kühle des Treppenhauses und von dort auf die Straße. Sein Auto stand auf der anderen Seite der Fußgängerbrücke am Straßenrand. Als wir die Mitte der Brücke erreichten, bat ich ihn, kurz stehen bleiben zu dürfen. Ich warf die zwei Karten ungelenk in den Fluss, sah ihnen nach, bis sie weiter flussabwärts an den Pfeilern der alten Eisenbahnbrücke vorbeigetrieben und außer Sichtweite verschwunden waren. Es war früher Morgen. Die Sonne hatte den Nebel über dem Fluss noch nicht durchdrungen, der weiße Himmel verhieß noch mehr Schnee. Ich drehte mich zu den Bäumen am gegenüberliegenden Flussufer um, und die ganze Welt zog in Sekundenbruchteilen an mir vorüber, mit einem unmerklich kurzen Flackern wie dem zwischen zwei Bildern auf einem Zelluloidstreifen – all jene nie festgehaltenen Augenblicke, aus denen mein Leben bestand, einer nach dem anderen, wie ein Film, der die ganze Zeit gelaufen war, ohne dass ich davon gewusst hätte.
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Zehn Oktober 2004
    Al Tafar, Provinz Ninive, Irak
    Murph, der mit weit offenem Mund geweint hatte, war weg. Er war abgehauen, nachdem er die tote Sanitäterin im Licht entdeckt hatte, das durch das zerschossene Dach der Kapelle gefallen war, im hohen, mit ihrem Blut bespritzten Gras. Er blieb der Zeremonie fern, die man zu ihren Ehren abhielt und in deren Verlauf der Sergeant Major der Brigade ihr Gewehr zwischen die Stiefel stellte und danach ihren kleinen, blanken Helm darüberstülpte. Da war er längst durch ein Loch im Zaun geflohen, hatte seine Kleider und die verstreut im Staub liegenden Einzelteile seiner Waffe zurückgelassen.
    Murph war weg, aber das wussten wir nicht. Wir lungerten in unserem Bereich herum, dämmerten im Mondschein, der Schatten auf Stacheldraht und Wachtürme warf. Wir ahnten nicht, dass dies eine besondere Nacht war, bis Sergeant Sterling einige Stunden später gelassen mitten in unsere chaotische Runde trat und sagte: »Heute hat jemand richtig Mist gebaut, Leute. Packt euren Krempel.« Unsere nachlässige Haltung schien ihn zu ärgern. Einige lagen auf dem Boden, andere waren auf den Beinen; manche saßen beisammen, andere hockten etwas abseits. Schwer zu sagen, was ihn mehr nervte: seine wahllos herumlungernden, wie aus einer Spielzeugschachtel geschüttelten Männer, das Durchzählen oder die Tatsache, dass einer von uns vermisst wurde. In der Forward Operation Basis heulte die Sirene, warnte uns wie üblich vor etwas, das längst passiert war. »Los, holen wir ihn zurück«, sagte er.
    Wir schnappten unsere Ausrüstung, griffen nach den Waffen, machten uns bereit, in Al Tafar einzurücken. Aus jedem Tor strömten Soldaten in die Viertel und Gassen, und das Echo des Klackens, das beim Durchladen von hundert Gewehren ertönte, hallte durch die heiße Nacht. Als wir in die Ausläufer der Stadt eindrangen, wurden die Vorhänge vor den Fenstern erhellter Zimmer zugezogen. Wir rissen die Gewehre hin und her. Hunde stahlen sich während unseres Vormarsches in die Schatten davon. Nach der Sperrstunde wirkte die Stadt wie eine gewaltige Katakombe, ihre finsteren Gassen wie ein riesiger Irrgarten. Wir wussten nicht, wann wir in die Basis zurückkehren würden, ob nach einer Stunde oder einer Woche, ob wir mit heiler Haut davonkommen oder zerfetzt am Rand stinkender Kanäle oder auf dürren Feldern enden würden. Wir hatten keine Gewissheiten. Bemühungen und Pläne waren gleichermaßen lachhaft. Wir merkten erst jetzt, wie müde wir waren. Wir tröpfelten in die
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