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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter
Autoren: Rachel Klein
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und den Namen auf dem Vorsatzblatt gelesen habe: Hilda Rood. Miss Rood würde mir nie ein Buch zu lesen geben. Und ihr ist natürlich nicht klar, dass Sofia dieses Buch niemals lesen wird.
    Jetzt verstehe ich, woher sie den Namen für ihren Hund hat. Es ist, als würde man seinen Hund Plato nennen.
    Ich sehe Miss Rood fast jeden Nachmittag beim Hockeytraining in ihrem langen, dunkelgrünen Regenmantel und den braunen Oxford-Schuhen, wie sie Pater über den oberen Sportplatz ausführt. Sie könnte jede beliebigen Schuhe tragen, trägt aber Oxfords, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Dabei sind uns Beispiele völlig egal. Wir wollen nur, dass man uns erlaubt, in der Schule Slipper zu tragen. Pater zieht immer an der Leine, und sie will ihn zurückhalten. Sein durchdringendes Gebell hallt in der stillen Herbstluft, irgendwie gedämpft, als hätte er Wolle in der Schnauze.
    Ich saß in dem großen Sessel vor Sofias Fenster und las die letzten Seiten der Renaissance. Dann las ich Sofia einige Passagen laut vor, damit sie Miss Rood beim nächsten Mal etwas zu sagen hat. Beispielsweise die Stelle, an der Victor Hugo zitiert wird: »Wir alle unterliegen der Todesstrafe, aber mit einer Art unendlichem Aufschub.« Ich las mit steifem, britischem Akzent, wir mussten furchtbar lachen.
    Miss Rood: grauweiß meliertes Haar mit einigen rostroten Spuren, die an ihre Jugend erinnern; blasse, wässrig-blaue Augen hinter einer dicken, rosa gefassten Brille; fleckige Haut. Ihre großen rosa Hände, auf denen die Adern wie gewundene Drähte aufliegen, haben tatsächlich diese Seiten umgeblättert und Stellen unterstrichen. Wie kann jemand wie sie, deren Leben nur daraus besteht, Hunderte junger Mädchen unter Kontrolle zu halten, sich auf Kunst, Schönheit und harte, funkelnde Ideen verstehen? Brennt in Miss Rood etwa die Flamme der Ekstase? Sie ist alt und verbraucht. Beim Lesen sah ich sie im Geiste, wie sie kerzengerade und steif an ihrem Pult vor der Versammlung steht, mit uns das tägliche Kirchenlied singt und die Arme hebt, wenn ihre kratzige Stimme die ersten Töne anstimmt und in unseren höheren, reineren Stimmen untergeht.
    Ich konnte Sofia nicht weiter vorlesen. Ich tat, als könnte ich nicht aufhören zu lachen.
27. September
    Gestern Abend waren wir in Chinatown essen. Eigentlich wollten wir zu zehnt gehen, doch Ernessa kam nicht mit. Also waren Sofia, Carol, Betsy, Kiki, Charley, Lucy, Dora, Claire und ich dabei. Zuerst wollte Lucy auch nicht mitkommen, weil sie so viele Hausaufgaben aufhat, doch wir überredeten sie, und ich versprach, ihr bei ihrem Englischreferat zu helfen. Es ist kein tolles Chinatown und liegt in einem heruntergekommenen Viertel, wirkt aber dennoch exotisch. Ich mag die roten und goldenen Balken, die geschwungen sind wie die Dächer einer Pagode, und das Neonlicht und die riesigen schwarzen chinesischen Schriftzeichen. Es ist eine kleine Insel aus hellem Licht, umgeben von dunklen Gebäuden und verlassenen Parkplätzen. Wir mussten Charley und Kiki ins Restaurant schleifen; sie wollten auf der Straße Pot kaufen. Wir gingen nach hinten durch und setzten uns an einen großen, runden Tisch mit einer drehbaren Servierplatte in der Mitte. Zum Glück waren wir allein, denn wir waren ziemlich laut. Charley, Kiki und Betsy rissen dauernd wirklich dumme und anzügliche Witze über die Kellner und ahmten ihren Akzent nach. Sofia zog mich auf den Stuhl neben sich. Jeder bestellte etwas anderes, und wir teilten alles. Es gab so viel zu essen, und ich aß und trank Tee und drehte die Servierplatte weiter und weiter.
    Aus irgendeinem Grund beugte Dora sich während des Essens zu mir und sagte: »Lucy sieht heute Abend so schön aus.«
    Lucy saß mir unmittelbar gegenüber. Ihr Gesicht glühte, die Lippen waren rot, die Augen glasig, als hätte sie Fieber. Das Licht war gedämpft, und die Kerzenflamme vor ihr flackerte, tauchte ihr Gesicht in Schatten und erhellte es jäh. Sie sah heute Abend wirklich schön aus; ihr Gesichtsausdruck hatte etwas Unerwartetes. Sie schaute mich an, und ich konnte sehen, dass sie unglücklich war.
    Ich starrte Lucy an und errötete, als hätte Dora mir ein Kompliment gemacht. Heute Abend sah Lucy aus wie eine Geliebte, das merkten alle am Tisch. Dora sprach nur aus, was alle empfanden. Ich fühlte mich unbehaglich und glücklich zugleich.
    Nachts konnte ich nicht schlafen. Es muss an dem ganzen Tee gelegen haben. Heute bin ich erschöpft.
    Lucy hat gerade den Kopf hereingesteckt. Ich
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