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Die Seherin von Knossos

Die Seherin von Knossos

Titel: Die Seherin von Knossos
Autoren: Suzanne Frank
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aus dem Dorf. Sibylla, aus dem Schlaf gerissen und im ersten Moment vollkommen verwirrt, verstand kein Wort von dem, was sie sagten. Sie blinzelte und heftete die Augen auf die plappernden Lippen einer Frau, bis sie spürte, wie sich mit einem Gefühl der Erleichterung Wissen in ihr ausbreitete. Die Stimme in ihrem Inneren wandte sich mit einem verärgerten Stöhnen ab, wodurch Sibylla endlich wieder die Kontrolle über ihren eigenen Geist bekam.
    Lächelnd und mit sanften Befehlen zogen ihr die Frauen einen fünflagigen roten und safrangelben Rock mit Jacke an, schnürten ihr Korsett und kämmten ihr Haar, bis es in Wellen auf ihre Taille fiel. Kühler Bleiglanz umringte ihre Augen und färbte ihre Lider. Niemand verlor auch nur ein Wort darüber, dass ihre Augen immer noch grün waren.
    Diese andere Psyche ist nach wie vor in mir, dachte Sibylla. Sie nahm sich ein Stück Brot, dann zogen sie gemeinsam durch den Nieselregen zur Haupthöhle. Heute würde nicht geweis-sagt, stattdessen würden Alt und Jung beisammen sitzen und den Geschichten aus dem Dorf lauschen, von alltäglichen Prüfungen durch qualmende Feuer, mürrische Männer, schreiende Kleinkinder und hitzköpfige Esel. Die Zeit des Regens diente der Ruhe. So wie Erde und Sonne und Meer ruhten, so ruhte auch das Dorf.
    Die Frauen hatten Wolle zum Krempeln mitgebracht. Um das Feuer sitzend, teilten sie die Arbeitsgeräte und die zu krempelnden Vliese aus. Sibylla nahm zwei der gezackten Platten entgegen und legte ein Wollbüschel dazwischen. Im Takt mit den anderen verschob sie die Platten gegeneinander, wodurch die Wolle geradegezogen und gestreckt wurde. Es war eine laute Arbeit, vor allem, da alle zwanzig Frauen schwatzten und fast schreien mussten, um sich über das Klatschen und Kratzen hinweg verständlich zu machen.
    Als die Sonne im Zenit stand, machten sie Pause und gingen nach draußen. Das Licht war fahl und der Felsvorsprung vor der Höhle glitschig vom Regen. Die jüngeren Frauen spielten mit einem Ball, den sie lachend und kichernd durch die Luft kickten, während die Älteren Gurken aufschnitten und Fladenbrote mit Ziegenkäse belegten.
    Einige Nymphen forderten die übrigen in einer Nachahmung der Sonnwendfeiern zum Wettlauf heraus. Nachdem die Mädchen ihre Bauchgurte gelöst hatten, zogen sie die Röcke aus und rannten barfuß hin und her, einander ziehend und sich gegenseitig anfeuernd, wobei sie einen solchen Aufruhr verursachten, dass eine der Mütter sie allesamt auf einen anderen Felssims verbannte. »Dort könnt ihr laufen, und wir können euch allen zuschauen«, meinte sie lächelnd.
    »Nera, das hast du nur gemacht, um sie loszuwerden!«, flüsterte eine alte Frau, deren Stimme im Lärmen der auf den unteren Sims umziehende Mädchen fast unterging.
    »Lillina übt schon seit Monden Wettrennen! Die schlammigen Pfade rauf und runter, durch die Felder, hin und her! Bei Kelas Rock, wenn das Mädchen nicht bald ruhiger wird, dann lasse ich sie Holz schmecken!«
    Sibylla lachte, denn sie wusste, dass diese Frau eher das Orakel schlagen würde als ihr Kind. Die Frauen aus dem Dorf lachten ebenfalls, hackten Zwiebeln, bröckelten Käse auf die festen Winterkräuter. Während sie Wein aus den Weingütern der Matriarchin tranken, besprachen sie, wie sie am besten Ke-las Wünschen entsprechen konnten. Sollten sie vor der Zeit des Löwen fliehen? Mitten in der Ernte?
    Doch wenn Kela ihnen befahl, fortzuziehen, dann würden sie ihre Webstühle schultern, ihre Esel und weiß gekleideten Kinder packen und fortziehen. Sie glaubten fest daran, dass die Göttin sie liebte und beschützte. Sie verstanden sie nicht, aber sie glaubten an sie. Wenn Aztlans Glaube nur ebenso stark wäre, dachte Sibylla. Sie bezweifelte, dass die Aztlantu ihr glauben würden, selbst wenn die Nüstern des Stieres schon Blut spuckten. Nach Hunderten von Jahren ohne jeden Konflikt mit der Erde oder anderen Sterblichen waren sie überheblich geworden. Sie kannten weder Angst noch Achtung. Würden sie ihre Landhäuser mit den üppigen Gärten zurücklassen, die Kopfsteinstraßen und Läden, wo man jede Ware kaufen konnte, die in der Ägäis zu haben war? Würden sie ihre Weingüter aufgeben, die über die glitzernde Weite der Therossee blickten?
    Und falls sie weggingen, wohin würden sie fliehen?
    Nach dem Mittagessen zogen sich die Frauen in den Schatten des Hügels zurück, nebeneinander sitzend wie Vögel auf der Telefonleitung, hörte Sibylla in ihrem Geist. Dösend
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