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die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin

die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin

Titel: die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
Autoren: Jeri Smith-Ready
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Massengrab geworden. Einzelne Grabstellen zu markieren blieb keine Zeit, denn die Hitze und die Feuchtigkeit verlangten, dass man die Toten sofort begrub. Auch wenn Rhia das nachvollziehen konnte, sehnte sie sich danach, zu wissen, wo genau ihr Bruder Nilo begraben lag.
    Zwei Abende nach Mareks Rettung gingen sie durch das Dorf, die Hauptstraße am Fluss entlang. Fast jeder, an dem sie vorbeikamen, trug sein Haar kurz. Insgeheim war sie dankbar, dass ihre Mutter diesen Tag nicht mehr hatte erleben müssen. An den fernen Ufern der anderen Seite sah Mayra Asermos durch einen dicken Nebel und verstand, wie diese Schlacht in die Pläne der Geister passte.
    Im Augenblick erschien es ihr wie ein grausamer Plan. Aber vielleicht würden die Nachfahren jetzt, da sie die Macht der Magie ihres Volkes erlebt hatten, ihren Respekt für die Geister wiederfinden. Vielleicht konnten sie eines Tages wieder alle ein Volk sein.
    Ha, dachte sie. Die Träumereien eines Dummkopfs.
    Rhia betrat das große Haus der Otterfrau Sura, einer Heilerin, von dem ein Teil als Krankenlager diente. Die Räume waren voll mit Patienten, die nebeneinander auf dem Boden lagen. Als Polster dienten ihnen Decken, die die Dorfbewohner im Umkreis gespendet hatten. Decken, die wahrscheinlich von Blut und anderen Flüssigkeiten, die sich hier auf sie ergossen, ruiniert wurden. Sie rümpfte die Nase über den Geruch und dachte daran, wie viel schlimmer es für einen Wolf wie Marek sein musste.
    Und tatsächlich, er saß mit dem Rücken gegen die hinterste Wand gelehnt und hatte sich ein Stück Stoff fest um Mund und Nase gebunden. Seine Augenbrauen hoben sich, als er sie sah, und er winkte sie mit einer verbundenen Hand zu sich.
    Sie bahnte sich ihren Weg durch die schlafenden, stöhnenden Verletzten und versuchte, jedem von ihnen einen tröstenden Blick zu schenken, ihnen Mitgefühl zu zeigen, für das sie eigentlich schon zu taub war. Krähes Flügel schwiegen. All diese Patienten würden trotz ihrer Leiden überleben.
    Marek murmelte etwas, als sie neben ihm stand. Sie zog den Knebel zu seinem Hals herunter. Er machte ein angewidertes Gesicht. „Ich habe gesagt, hol mich hier raus.”
    Sie hockte sich neben ihn. „Wie geht es deinem Bein heute?” „Als würde ich was zu trinken brauchen.” Sein neckischer Blick wurde schnell wieder ernst. „Wie geht es dir?”
    Traurig wandte sie sich ab. Selbst er würde die dumpfe Verzweiflung, die auf ihrem Herzen lag, nicht verstehen.
    Mithilfe einer Krücke und Rhias gesunder Schulter humpelte er aus dem Haus der Heilerin.
    „Ah, Luft”, rief er, als sie draußen waren. „Ich liebe Luft.” Plötzlich wurde er still und rieb sich den Hals. Zum ersten Mal fielen ihr die roten Striemen um seine Kehle auf. Als sie ihn vorher gesehen hatte, war sein Hals zum größten Teil von Blut oder Verbänden bedeckt gewesen. Die Striemen mussten von dem Seil stammen, mit dem die Nachfahren ihn gefesselt hatten – und wahrscheinlich auch gewürgt. Sie fragte sich, ob er ihr je anvertrauen würde, welche Qualen er im Lager der Nachfahren hatte erleiden müssen. Im Augenblick brächte er damit nur die Wut zum Lodern, die in ihr schwelte und ihre Fähigkeit, etwas anderes zu empfinden, verschlang.
    In dieser Nacht schliefen Rhia und Marek im ersten Stock ihres Hauses. Tereus überließ Elora und Alanka sein Bett und nahm selbst den Heuboden, da Marek mit seinem verletzten Bein nicht klettern konnte.
    Marek zitterte und zuckte im Schlaf und stieß leise Schreie aus. Er hatte immer ruhig geschlafen; sie fragte sich, welche Träume oder Erinnerungen seinen Schlaf jetzt quälten.
    Wenigstens konnte er schlafen. Rhia starrte stundenlang an die Decke und wartete darauf, dass die kurze Sommernacht zu Ende ging. Während sie dort lag, wuchs eine Uberzeugung in ihr. Sie konnte das Beerdigungsritual am nächsten Tag nicht abhalten. Alle Gefühle – Zärtlichkeit, Sorge, Liebe – hatten sie verlassen. Es gab nur noch den betäubenden, lindernden Balsam des Todes. Sie war kaum mehr als eine Hülle, und niemand würde sehen wollen, wie eine Hülle das heiligste Ritual ihres Volkes vollzog. Ihre Freunde, ihre Familie – ganz Asermos -brauchten ihren Trost, brauchten sie ganz, was sie nie wieder sein würde.
    All diese Toten hatten sie so fruchtlos zurückgelassen wie ... Wie den zweiten Baum.
    Sie erhoben sich vor ihr, so lebendig, als wäre sie wieder auf der Lichtung, bei Krähe, in der Nacht ihrer Weihung. Aber jetzt stand sie zwischen
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