Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seele des Königs (German Edition)

Die Seele des Königs (German Edition)

Titel: Die Seele des Königs (German Edition)
Autoren: Brandon Sanderson
Vom Netzwerk:
schaffen kann, dem Handwerk des Fälschens zu? Warum schafft er keine eigenen, originalen Gemälde? Warum ist er kein wahrer Künstler?
    Das würde ich gern verstehen .
    » Ja«, fuhr Frava fort, » diese Frau ist eine Diebin, und sie übt eine schreckliche Kunst aus. Aber ich kann sie kontrollieren, und mithilfe ihrer Gaben sind wir in der Lage, die Schwierigkeiten zu beseitigen, in die wir geraten sind.«
    Die anderen murmelten besorgte Einwände. Die Frau, von der sie hier sprachen – Wan ShaiLu – war mehr als eine einfache Kunstfälscherin. So viel mehr. Sie vermochte die innerste Natur der Wirklichkeit zu verändern. Und das führte zu einer weiteren Frage: Warum hatte sie sich die Mühe gemacht, das Malen zu erlernen? War die gewöhnliche Kunst im Vergleich zu ihren mystischen Gaben nicht völlig banal?
    So viele Fragen. Gaotona schaute von seinem Stuhl vor dem Kamin auf. Die anderen standen wie ein Verschwörerhaufen um Fravas Schreibtisch herum; ihre langen, farbenprächtigen Roben schimmerten im Feuerschein. » Ich stimme mit Frava überein«, sagte Gaotona.
    Die anderen sahen zu ihm herüber. Ihre mürrischen Blicke zeigten deutlich, dass sie auf seine Worte nicht viel gaben, aber ihre Körperhaltung verriet etwas anderes. Ihre Hochachtung vor ihm mochte zwar tief in ihnen begraben sein, aber sie war noch nicht ganz vergessen.
    » Holt die Fälscherin«, sagte Gaotona und erhob sich. » Ich möchte gern hören, was sie zu sagen hat. Ich vermute, sie wird schwieriger zu beherrschen sein, als Frava behauptet, aber wir haben keine andere Wahl. Entweder bedienen wir uns der Fähigkeiten dieser Frau, oder wir verlieren die Kontrolle über das Reich.«
    Das Gemurmel erstarb. Wie viele Jahre war es her, seit Frava und Gaotona zum letzten Mal über irgendetwas derselben Meinung gewesen waren – von einer so umstrittenen Frage wie dem Einsatz einer Fälscherin erst ganz zu schweigen?
    Die übrigen drei Schlichter nickten, einer nach dem anderen.
    » Dann soll es geschehen«, sagte Frava leise.

TAG ZWEI
    S hai drückte ihren Fingernagel gegen einen der Steinquader, aus denen ihre Gefängniszelle bestand. Der Stein gab ein wenig nach. Sie zerrieb den Staub zwischen den Fingern. Kalk. Ein seltsames Material für eine Zellenwand, doch sie bestand nicht vollständig aus Kalkstein; dieser bildete vielmehr nur eine einzige Ader innerhalb dieses Quaders.
    Sie lächelte. Kalkstein. Diese winzige Ader hätte ihr leicht entgehen können, aber wenn sie sich nicht irrte, hatte sie inzwischen alle vierundvierzig Gesteinsarten in der Wand ihrer kreisrunden Zellengrube identifiziert. Shai kniete sich neben ihrer Pritsche nieder und ritzte mit einer Gabel – sie hatte alle Zinken bis auf einen zurückgebogen – Zeichen in das Holz des Bettpfostens. Da sie ihre Brille nicht trug, musste sie beim Schreiben angestrengt blinzeln.
    Wenn man etwas fälschen wollte, musste man dessen Vergangenheit und Natur kennen. Sie war beinahe fertig. Doch ihre Freude erlosch, als sie die anderen Zeichen auf dem Pfosten sah, die von ihrer flackernden Kerze angeleuchtet wurden. Sie halfen Shai dabei, die Tage ihrer Gefangenschaft zu zählen.
    Ich habe nicht mehr viel Zeit , dachte sie. Wenn ihre Berechnung richtig war, blieb nur noch ein einziger Tag bis zu dem Datum, das für ihre öffentliche Hinrichtung festgesetzt worden war.
    Ihre Nerven waren so fest gespannt wie die Saiten an einem Musikinstrument. Ein Tag. Nur noch ein Tag, um einen Seelenstempel herzustellen und zu verschwinden. Aber sie besaß keinen Seelenstein, sondern nur ein grobes Stück Holz, und ihr einziges Schnitzwerkzeug war eine Gabel.
    Es war unglaublich schwierig. Und genau das sollte es sein. Diese Zelle war für ihresgleichen erbaut worden – aus vielen verschiedenen Gesteinsarten, die ein Fälschen erschwerten. Sicherlich kamen sie aus unterschiedlichen Steinbrüchen, und jeder Quader hatte eine andere, einzigartige Geschichte. Da Shai so wenig über sie wusste, war es fast unmöglich, sie zu fälschen. Selbst wenn es ihr gelang, den Stein umzuwandeln, gab es vermutlich eine weitere Schutzvorrichtung, die ihr Einhalt gebieten würde.
    Dunkle Nacht! In was für ein Unheil hatte sie sich da bloß gebracht.
    Als sie mit dem Anbringen der Zeichen fertig war, betrachtete sie versonnen ihre verbogene Gabel. Sie hatte den hölzernen Griff zu einem groben Seelenstempel geschnitzt, nachdem sie das Metall davon abgeschabt hatte. Auf diesem Weg wirst du hier nicht herauskommen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher