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Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Titel: Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«
Autoren: Jules Verne
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wollenen Gürtel ab und umschnürte damit die Brust des Indianers, um den Verband dort festzuhalten.
    Konnte der Unglückliche mit dem Leben davonkommen? Der Kawdjer glaubte es nicht. Es gab kein Mittel, das diese fürchterlichen Wunden, die tief bis in die Weichteile reichten, die Lungenflügel nicht verschont hatten, zur Vernarbung bringen konnte!
    Karroly benützte einen lichten Moment des Verwundeten, welcher die Augen geöffnet hatte, zu einer Frage:
    »Wo ist dein Stamm?
    – Dort,… dort!… murmelte der Indianer und zeigte mit der Hand nach Osten.
    – Das wird acht bis zehn Meilen von hier, am Ufer des Kanales sein, sagte der Kawdjer; gestern Abend haben wir die Lagerfeuer gesehen.«
    Karroly nickte beistimmend.
    »Es ist erst vier Uhr, meinte der Kawdjer, aber die Flut ist bald zu erwarten; wir werden erst bei Sonnenaufgang fort können!
    – Ja, sagte Karroly und der Kawdjer fuhr fort: Halg und du, ihr könnt ihn in das Boot tragen und dort niederlegen; mehr können wir jetzt für ihn nicht tun.«
    Karroly und sein Sohn gehorchten sogleich. Sie hoben den Verwundeten auf und trugen ihn langsam und vorsichtig zum Strand hinunter; darauf kam der eine Indianer zurück, um den Jaguar zu holen, dessen Fell um teueres Geld an herumziehende Pelzhändler abgegeben werden sollte.
    Während die zwei Gefährten den ihnen gewordenen Auftrag vollzogen, entfernte sich der Kawdjer einige Schritte und erklomm eine der Felsenzacken der Klippe, von wo aus sein aufleuchtender Blick alle Punkte des Horizontes umfassen konnte. Zu seinen Füßen schlängelte sich die phantastisch geschnittene Uferlinie hin, die die Nordgrenze einer mehrere Meilen breiten Meeresstraße bildete. Die gegenüberliegende Küste, von tiefeinschneidenden Wasserarmen bis auf unabsehbare Entfernung hin zerrissen, war nur in vagen Umrissen sichtbar. Inseln und Inselchen waren ihr vorgelagert und erschienen dem fernen Beobachter wie bläulicher Wasserdunst.
    Weder im Osten noch im Westen konnte man das Ende dieser Meeresstraße erblicken, die von hohen, drohenden Klippen umsäumt war.
    Gegen Norden breiteten sich unendliche Prärien aus, die von zahlreichen Wasserläufen durchquert wurden, welche entweder als tosende Wildbäche oder in donnernden Wasserfällen ins Meer stürzten. Aus der Oberfläche dieser ungeheueren Ebenen erhoben sich stellenweise grüne Oasen, dichte Wälder, in deren Mitte man vergebens nach einem Dorfe gefahndet haben würde und deren Wipfel von den Strahlen der eben untergehenden Sonne in rotes Gold getaucht wurden. Noch weiter im Hintergrunde türmten sich schwere Bergmassen auf, mit glitzernden Kronen blendend weißer Gletscher geschmückt.
    In östlicher Richtung war der bergige Charakter der Gegend fast noch mehr ausgeprägt. Als ob sie mit dem Binnenlande Schritt halten wollten, erhoben sich die Felsen terrassenförmig zu immer höheren Regionen und verloren sich schließlich als spitze Gipfel in den höchsten Himmelszonen.
    Die Gegend schien gänzlich verlassen, verödet und dieselbe Einsamkeit brütete über dem Wasser: weit und breit war kein Fahrzeug zu sehen, nicht einmal ein gebrechliches Rindenkanoe oder ein primitives Segelboot! Und so weit der Blick reichen konnte, auf keiner der Inseln im Süden, an keiner Stelle der Küste, auf keinem erhöhten Punkte der Uferklippen stieg auch nur das leichteste Rauchwölkchen auf, das Kunde gegeben hätte von der Gegenwart menschlicher Lebewesen.
    Der Tag neigte sich seinem Ende zu und über Land und Wasser schwebte jener Hauch von Melancholie, der stets der Dämmerstunde voranzugehen pflegt. Einige dunkle Punkte verfinsterten den Abendhimmel; es waren große Vögel, die langsam durch die Lüfte schwebten und Umschau hielten nach einem Zufluchtsort für die Nacht.
    Mit gekreuzten Armen stand der Kawdjer auf dem Felsblock, den er erklommen hatte, unbeweglich wie ein Steinbild. Sein Antlitz war verklärt, als hätte er eine Vision, seine Lider zitterten, seine Augen strahlten im Feuer heiliger Begeisterung, während er in die Betrachtung dieses wundervollen Schauspieles versunken war, das Wasser und Land bot, hier, an den äußersten Grenzen der Welt, auf diesen letzten, verstreuten Parzellen des Erdganzen, einer vergessenen Region, wo kein Mensch ein Eigentumsrecht geltend machen konnte und die sich nie unter das Joch eines Gesetzgebers gebeugt hatte.
    Lange, lange stand er so da, vom sinkenden Licht wie von einer Strahlengloriole umwoben, von der leichten Brise liebkosend
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