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Die rote Schleife

Die rote Schleife

Titel: Die rote Schleife
Autoren: edition zweihorn GmbH & Co. KG
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Belang.
    Sie ging zum Waschbecken, das sich in einer Nische ihres Zimmers befand. Die Wimperntusche hatte die Tränenströme im Gesicht nachgezeichnet. Ihre Augen waren unterlaufen und gerötet. Sie brannten ein wenig. Und nun? Fragend schaute sie in ihr Gesicht. Was kam nun?
    Ihre Gedanken überschlugen sich. Sollte sie zuerst mit ihren Eltern sprechen? Oder vielleicht heimlich zur Hausärztin gehen und sie um Hilfe bitten? Es gab doch so etwas wie eine Schweigepflicht. Auch gegenüber ihren Eltern, oder? Wenn es doch gut ausging, musste sie ja niemandem davon erzählen! Und wenn sie sich bei Maximilian angesteckt haben sollte, war eh alles im Eimer.
    Sie wusch sich schnell mit kaltem Wasser das Gesicht, leichte Schlieren blieben auf ihren Wangen zurück. Ihr blondes Haar war zerzaust. Sie steckte eine Bürste in ihren Rucksack und verließ ihr Zimmer.
    Auf dem Weg zum Bus hatte sie das Gefühl, dass plötzlich alle in ihre Richtung starrten. Konnte man ihr etwas ansehen? Beijedem Schritt fühlte sich der Boden weicher unter ihr an. Fast taumelnd erreichte sie die Bushaltestelle und war froh, sich auf eine Bank setzen zu können. Den Kopf lehnte sie gequält an die Wand. Er fühlte sich so schwer an. Neben sich entdeckte sie einen Schriftzug, der an die Wand gesprüht war: „Fuck you!“ Ja, dachte sie, fuck you all!
    Die Praxis von Frau Dr. Scherlein lag in der Stadt und war glücklicherweise gut mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen.
    Dorothee klingelte an der Tür. Es surrte und mit einem „Klack“ stieß sie die Türe auf. Am Ende des langen Flures saß eine Arzthelferin hinter einem Tresen. Dorothees Schritte hallten ungewöhnlich lange, als sie an dem Wartezimmer vorbeiging. Mehrere Patienten sahen zu ihr auf. Ein eigenartiger Geruch lag in der Luft, nach Arzt, nach Krankheit roch es hier. Fast beißend. Sie war schon so lange nicht mehr da gewesen.
    „Hallo“, sagte Dorothee. „Ich muss dringend noch heute von Frau Dr. Scherlein untersucht werden!“
    Die Arzthelferin zog die Augenbrauen nach oben. „Worum geht es denn? Wir haben nämlich keinen Termin mehr frei und das Wartezimmer ist rappelvoll!“
    Dorothee konnte unmöglich sagen, warum es so wichtig war. Alle anderen würden es mitbekommen! Nein, das durfte nur die Ärztin erfahren.
    „Ich kann warten. Bitte, es ist unheimlich wichtig!“ Dorothee sah der Arzthelferin in die Augen. Vielleicht hatte sie gesehen, dass ihre Wimperntusche durch Tränen verwischt war. Sie nickte,nahm Dorothees Krankenkassenkarte entgegen und schickte sie ins Wartezimmer.
    Der Raum war tatsächlich voll. Dorothee musste stehen, bis eine ältere Frau aufgerufen wurde und wieder ein Stuhl frei war. Sie blätterte fast alle Zeitschriften, die auf dem Tischchen in der Mitte lagen, durch. Die Zeit verstrich quälend langsam. Jedes Mal, wenn sie erneut auf die Uhr über der Tür spickte, waren nur wenige Minuten vergangen.
    Von ihrem Platz aus beobachtete sie die anderen Patienten. Sie konnte sich sowieso kaum auf das Geschriebene konzentrieren. Einer hatte einen dicken Schal um, dabei war es doch gerade mal Oktober. Immer wenn er hustete, war ein Rasseln zu hören. Dorothee rutschte fast unbewusst auf ihrem Stuhl weg von ihm. Sie wollte sich bloß nicht anstecken. Anstecken? Es wäre auf jeden Fall das kleinere Übel, sagte sie sich.
    Nach fast zwei Stunden wurde sie endlich aufgerufen. Sie folgte der Arzthelferin in den Behandlungsraum und nahm auf einem Stuhl, der dem Schreibtisch gegenüber stand, Platz. Dorothee hatte nicht einmal Zeit, sich in dem Zimmer genau umzuschauen, als schon Frau Dr. Scherlein kam.
    „Hallo, junge Dame!“, sagte sie freundlich.
    Dorothee stand auf und gab ihr die Hand. „Es tut mir leid, dass ich so hereinplatze, aber es ist wirklich wichtig.“
    Die Ärztin nahm ebenfalls Platz. „Was kann ich für dich tun?“
    „Mein Freund hat HIV!“, sagte Dorothee und begann zu weinen. Das Lächeln der Ärztin verflüchtigte sich.
    Dann sprudeltees aus Dorothee heraus. Sie erzählte ihr von Maximilian, dass er im Krankenhaus gewesen war und was die Ärzte bei ihm festgestellt hatten. Die angestaute Wut entlud sich in dem kleinen Behandlungszimmer.
    Nach einer kurzen Pause stand die Ärztin auf, ging um den Schreibtisch zu Dorothee und legte einen Arm um ihre Schulter.
    „Leider muss ich dir jetzt eine intime Frage stellen, damit wir das Risiko besser einschätzen können, ja?“ Dorothee nickte stumm. „Hattet ihr ungeschützten
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