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Die Rose von Darjeeling - Roman

Die Rose von Darjeeling - Roman

Titel: Die Rose von Darjeeling - Roman
Autoren: Sylvia Lott
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gewesen.
    Obwohl die Insel nur gut hundert Quadratkilometer groß war, konnte man den ganzen Tag umherfahren und immer etwas anderes entdecken. Sie fuhren mit geöffneten Fenstern vorbei an rosenbewachsenen Cottages und üppigen Bauerngärten, an nach Süden ausgerichteten Höfen und imposanten Gutshäusern wie in der Normandie. Manchmal fuhr Kathryn langsamer, damit sie den Duft besser wahrnehmen konnten.
    »Riechst du die Wildkräuter?«, fragte sie, als der Leuchtturm von Corbière mit den begrünten Dünen in Sichtweite kam.
    Ab und zu hielten sie auch an und gingen ein Stück zu Fuß. Nicht nur die Inselbewohner, die Kathryn Taintsworth und ihren Enkel erkannten, auch Touristen lächelten dem fröhlichen Pärchen zu – oben im Norden am dramatischen Kliffufer wie auch am Sandstrand von St. Quen’s Bay im Westen.
    »Du, Grandma«, gestand Miles beschämt, als sie am Wasser eine Weile ihren Gedanken nachhingen, »ich hab Angst, im Meer zu schwimmen. Geht das weg, wenn ich größer bin?«
    Kathryn lächelte nachsichtig. »Bestimmt. Eines Tages kommt eine schöne Nixe, die wird dir die Angst nehmen.«
    Besonders faszinierten den Jungen die weitläufigen Befestigungsanlagen und Bunker am Strand, die aus dem Zweiten Weltkrieg stammten. »Das haben die Feinde aus Deutschland gebaut, nicht?«, fragte er, und seine blaugrünen Augen strahlten. »Und wir haben die bösen Nazis besiegt!«
    »Ja, aber sie waren nicht alle böse«, erwiderte seine Großmutter. Der Wind frischte auf, sie hielt ihren Hut fest. »Die Deutschen sind Menschen wie wir, die Freunde haben und jemanden lieb haben und die sich Frieden wünschen statt Krieg. Nicht alle, aber die meisten.«
    Ihre Stimme schwankte, ihre grünen Augen schimmerten verdächtig. Miles spürte, dass er ein empfindliches Thema berührt hatte.
    »Kennst du welche, Grandma?«
    »Natürlich. Sehr viele. In den Zwanzigerjahren war ich als junges Mädchen in Berlin, und in Darjeeling hatten wir Besuch …« Sie hielt inne, räusperte sich. »Ach, das erzähl ich dir später mal.«
    »Wenn du achtzig wirst?«, fragte Miles schelmisch.
    »Ja.«
    »Versprochen?«
    »Versprochen, und es wird nicht gebrochen«, sagte sie wie früher, als er noch klein gewesen war.
    Er grinste. »Gehört das zu deiner Geschichte?«
    Sie staunte über seine Sensibilität und staunte auch wieder nicht. Miles war immer schon neugierig gewesen.
    Sie nickte nur.
    »Kennt Dad die Geschichte schon?«
    »Nein. Niemand außer mir kennt sie. Und ich möchte dich bitten, bis Sonntag auch niemandem gegenüber irgendwelche Andeutungen zu machen.« Kathryn beugte sich zu ihrem Enkel hinunter und sah ihm in die Augen. »Versprichst du mir das, Miles?«
    »Ja.«
    »Wunderbar.« Sie ging einen Takt schneller zum Auto zurück. »Dann spiele ich jetzt auch mit dir das Spiel ›Sag mir, wo ich abbiegen soll‹«.
    »Au, klasse!«
    Miles durfte nun zwischendurch immer wieder an Abzweigungen die Richtung bestimmen. Kathryn bereitete es großes Vergnügen, ihm die Schönheiten der Insel zu zeigen. Ab und zu hielten sie an, um Bestellungen für das Fest aufzugeben – Spezialitäten wie Pazifikaustern, die Doug, ein Exbanker, am Strand von La Rocque züchtete, einen trockenen Weißwein, den dessen Freund Majors als Hobbywinzer auf der Insel erzeugte.
    »Jetzt rechts, Grandma!«
    Sie bog scharf ab. Gerade noch hatten sie den Sommer auf dem Land in der Nase gehabt – warme Schwaden von Kuhfladen, Heu und Heckenrosen –, jetzt plötzlich mischte sich der scharfe Geruch von Tang mit kühler Meeresbrise und Jod in die Komposition. Einige Bauern düngten ihre Äcker mit Algen.
    »Böah!« Miles schüttelte sich. »Das stinkt ja erbärmlich!«
    »Aber es steigert den Ertrag gewaltig.« Lachend gab Kathryn Gas.
    »Wohin jetzt?«
    Sie standen an einer einsamen Doppelkreuzung in hügeliger Landschaft. Miles ließ sich Zeit, studierte aufmerksam die Umgebung. Er fokussierte die Trichterwinden und einen Salamander, der sich an der Straßenmauer sonnte, sah brummende Hummeln in Fingerhutkelche krabbeln, las die Inschrift eines Hochzeitssteins über einer alten Haustür. Geduldig wartete Kathryn seine Entscheidung ab. Vor ihnen erstreckten sich Kartoffelfelder, so weit sie sehen konnten.
    »Über den Hügel geradeaus!«
    Als sie den höchsten Punkt erreicht hatten, lag eine überwältigend große, glitzernde blaue Fläche vor ihnen. Der Junge brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es der Ärmelkanal war. Kathryn fuhr links an den
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