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Die Reise ins Licht

Die Reise ins Licht

Titel: Die Reise ins Licht
Autoren: Andrej Djakow
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eingewickelte Tüte mit dem Allerwesentlichsten unters Hemd. Dort hatte er auch den Aufkleber von Wladiwostok hineingesteckt, den er von dem Teller abgezogen hatte. Das Metall unter seinen nackten Fußsohlen fühlte sich unangenehm kalt an. Taran legte die nutzlose Pistole aufs Deck – es war keine Patrone mehr übrig.

    Der Junge blickte mit Bedauern auf seine Pernatsch. Es schmerzte ihn, sich von ihr zu trennen, aber dort, wohin sie in kurzer Zeit aufbrechen würden, hatte er dafür keine Verwendung mehr.
    »Zieh diese Dinger hier an.« Der Stalker warf seinem Schüler Schwimmflossen zu, die er auf dem Deck gefunden hatte.
    »Wofür sind die?«
    »Damit kannst du dich über Wasser halten.«
    Sie stiegen auf das Dach des Steuerhauses, setzten sich an den Rand und ließen ihre Füße baumeln. Durch den nebligen Dunst drang immer noch ein matter, ferner Lichtstrahl.
    Der Junge nickte in Richtung des Leuchtturms. »Was wird nun aus ihnen werden?«
    »Auffressen werden sie sich gegenseitig, und dann ist es bald vorbei. Falls die Strahlung sie nicht schon eher erledigt …«
    Gleb betrachtete die gleichmäßige Linie des Horizonts. Genau so wollte er sich die äußere Welt einprägen: ruhig, düster und majestätisch. Der Nebel wurde nun immer dichter, so dass jenseits des im Wasser versinkenden Decks kaum noch etwas zu erkennen war. Ein milchiger Schleier verhüllte alles ringsum. Hätte ihn nicht das Tosen des Meeres an die Wirklichkeit der Ereignisse erinnert, so hätte Gleb meinen können, dass er wieder träumte. Doch dies alles geschah wirklich. Und die Wellen, die sie bereits erwarteten, rauschten ganz in ihrer Nähe.
    Die Frage, die ihn schon die ganze Zeit gequält hatte, kam ihm plötzlich wie von selbst über die Lippen: »Warum hast du ausgerechnet mich ausgewählt?«

    Sein Meister seufzte, zauste dem Jungen die Haare, und sagte langsam, als wäge er jedes Wort ab: »Weil du genauso bist wie ich … Nur im Unterschied zu mir hast du die Hoffnung noch nicht verloren … Und das ist heutzutage eine sehr seltene Eigenschaft.«
    Der Junge blickte seinem Meister in die Augen. »Sag mir, was ist dein wirklicher Name?«
    Der Stalker zuckte kaum merklich zusammen, erstarrte für einen Augenblick und wandte auf einmal seinen Blick ab.
    »Gleb Taranow.«
    Wie versteinert starrte der Junge auf das weiße Leichentuch jenseits der Bordwand und versuchte seine Gedanken zu ordnen … So saßen sie nebeneinander da, in dieser irrealen Welt, die erfüllt war von Stille und Frieden, bis das Wasser das Dach des Steuerhauses erreichte.
    Sie erhoben sich, und Gleb hielt sich instinktiv an seinem Meister fest. Die Meeresbrise bespritzte sie bereits mit salzigem Wasser, die Wellen warfen sich ungeduldig gegen den Schlepper, als ob sie wetteiferten, welche als Erste diese beiden winzigen menschlichen Gestalten erreichen würde, die durch eine Fügung des Schicksals in die unendliche Weite des Meeres gelangt waren.
    Schon schwappte eine Welle über die wacklige Konstruktion. Ihre Beine rutschten auf dem abschüssigen Dach ab, und im nächsten Augenblick befanden sich der Stalker und der Junge in dem ernüchternd kalten Wasser. Der Schlepper verschwand in der Tiefe, und bald verwiesen nur noch vereinzelte Luftblasen an der Oberfläche auf den Ort des Untergangs.

    Die Welt kippte um. Vor den Augen des Jungen flogen, einander abwechselnd, zwei Elemente vorbei: Wasser und Luft. Nebliger Dunst und dunkles Nass. Das Weiße und das Schwarze. Gleb geriet außer Fassung und schluckte gleich in den ersten Sekunden Wasser.
    »Nicht so hastig! Strample mit den Beinen!« Der Meister hielt den hustenden Jungen fest. »Beweg dich, beweg dich!«
    Der Junge begann verkrampft mit Armen und Beinen zu schlagen, doch schon bald merkte er, dass er müde wurde.
    »Nicht so hastig! Ruhiger, sage ich! Schau, so.«
    Allmählich gewöhnte sich Gleb daran, mit den Schwimmflossen zu paddeln. Nervös drehte er den Kopf hin und her. Überall stießen seine Augen auf ein und dasselbe Bild: Wellen und weißlichen Dunst. Nur den Kopf seines Meisters konnte er neben sich erkennen. Dessen Blick war erstaunlicherweise ganz ruhig. Zu ruhig … fast schon schicksalsergeben. Gleb begann mit doppelter Energie auf das Wasser einzudreschen.
    Die Kälte ging ihm durch Mark und Bein. Seine Zähne klapperten. Arme und Beine wurden bleischwer. Trotz der Hilfe des Stalkers fiel es ihm immer schwerer, sich über Wasser zu halten. Es gab keinen Ausweg.
    »Ich will nicht …!«
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