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Die Reise ins Licht

Die Reise ins Licht

Titel: Die Reise ins Licht
Autoren: Andrej Djakow
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das Reptil mit einer Bö des kalten Herbstwinds auf das ausgetrocknete Flussbett der Newa herab. Unter ihm rasten Autogerippe, Müllberge, rostige Bewehrungsgitter und ausgehöhlte Pfeiler längst eingestürzter Brücken vorbei – ein von Menschenhand erschaffener Dschungel aus Stahlbeton, das Erbe der einstigen »Herren des Lebens«.
    Ein paar Flügelschläge weiter blitzten unten die Gleise der Eisenbahn auf, die da und dort aus dem graubraunen Moos herauslugten. Über dem Rangierbahnhof zog der Raubvogel für gewöhnlich einige Runden in der Hoffnung, eine zweibeinige Beute auszumachen. Früher waren diese merkwürdigen Kreaturen häufig dort aufgetaucht, um in der hartgefrorenen Erde zu wühlen. Nun aber erinnerten
an ihre Besuche nur noch die verkrüppelten Gleise sowie – quer dazu – gleichmäßige rechteckige Vertiefungen: Die Schwellen waren längst fortgeschleppt worden.
    Nachdem der Pterodon einen letzten Blick auf die Reihen verrosteter Waggons geworfen hatte, zog er weiter, hoch über den Ruinen des Prospekt Slawy Ref. 1 . Wie die Wände eines Canyons wiesen die halbzerstörten Häuser dem Räuber den Weg. Trotz der starken Windstöße bewegte er sich sicher auf seiner gewohnten Route. Plötzlich beschleunigte er und stürzte auf den geborstenen Asphalt herab: Weiter vorn tauchte die Straße unter dem Nowo-Wolkowski Most Ref. 2 hindurch. Dichte, klebrige Fäden eines gigantischen Netzes, gewoben von einem unbekannten Raubtier, verschnürten den rechteckigen Bogen der Brücke. Wie zum Hohn beschleunigte der Pterodon noch mehr, legte die Flügel an und durchbrach laut kreischend und mit enormer Geschwindigkeit das Hindernis. Schon flatterten die zerfetzten Ränder des entstandenen Lochs im starken Wind, und aus den Tiefen des Netzes starrten elf boshafte Augen dem entschwindenden Flugsaurier nach. Der Morgen brach an in dieser irrsinnigen neuen Welt, ein neuer Tag eines irrsinnigen neuen Lebens …
    Unterdessen hatte die Bestie den Moskauer Platz Ref. 3 erreicht und setzte zum Sturzflug auf die riesige Statue an. Sanft landete sie auf der ausgestreckten Hand des »Führers des Weltproletariats«, fand nach einigem Hin- und Hertrippeln die bequemste Position und verharrte schließlich in regloser Erwartung. Aufmerksam beobachtete sie den Ausgang der »Höhle« – jene eingestürzte Unterführung, die zur Station Moskowskaja Ref. 4 führte. Genau an dieser
Stelle hatte die Flugechse schon mehrmals Zweibeiner gesichtet, die aus der Erde aufgetaucht waren. Erst vor kurzem war es ihr sogar gelungen, sich an einem von ihnen gütlich zu tun, und nun wollte sie ihr Glück noch einmal versuchen. Die Erinnerung an den Geruch des süßen warmen Fleisches ließ den Körper des Reptils erneut erschauern.
    Im nächsten Moment ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Das ungewohnte Geräusch rollte über den Platz und brach sich an den zerklüfteten Häuserwänden. Die Bestie jedoch hörte das nicht mehr – der Kopf des Pterodons war in kleine Teile zerborsten, und aus dem krampfhaft gereckten Hals ergoss sich ein dicker Blutstrahl über die mit Raureif überzogenen Granitplatten des Sockels.
    In einem Fenster der siebten Etage des Stalinbaus auf der anderen Seite des Platzes konnte man flüchtig die Silhouette eines hochgewachsenen Mannes mit Gasmaske und unförmigem C-Waffen-Anzug erkennen. Geschäftig zerlegte er ein Gewehr mit optischem Visier und gewaltigem Mündungsstück. Ein paar Minuten später trat der Mann aus dem Haupteingang, blickte sich nach allen Seiten um und überquerte langsam den Platz, vorbei an riesigen Müllhalden. Der Kadaver des Pterodons lag als unförmiger Haufen am Fuße des Denkmals. Aus dem Halfter seines Gürtels zog der Jäger ein Beil von furchterregender Größe und hackte vom Flügel des Mutanten mit einem gezielten Schlag eine Knochenspitze ab. Nachdem er die Trophäe in einer Tasche seiner Militärweste verstaut hatte, nahm der Mann seine Kalaschnikow von der Schulter und verharrte abwartend.

    Aus der Unterführung tauchte bereits eine Gruppe von Menschen auf, die in graue Lumpen gehüllt waren und Haken sowie Schlitten dabeihatten. Der Stalker beobachtete, wie seine Stammesgenossen geschwind den massiven Kadaver des Monsters in das Vestibül der Station schleiften. Dann musterte er ein letztes Mal die Umgebung mit scharfem Blick und stieg unter die Erde hinab. Die spärlichen Sonnenstrahlen, die durch einen Riss in der düsteren Wolkendecke drangen, beleuchteten zaghaft die Ruinen
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