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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin
Autoren: Martina Kempff
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Vassiliki war immer für sie da gewesen und der einzige Mensch, dem sie bedingungslos vertraute. Es berührte sie auch nicht, wenn sie von der Mutter gerügt wurde zu vertraulich mit dem Personal umzugehen, denn schon als kleines Mädchen hatte sie gelernt, dass dies erheblich mehr Vorteile mit sich brachte, als den von der Mutter gewünschten Abstand zu halten. Die Köchin steckte ihr Süßigkeiten zu, die Mägde wuschen ihre verdreckte Kleidung, bevor die Mutter merkte, dass sie wieder in den Booten am Hafen gespielt hatte, und der älteste Knecht hatte sie einmal heimlich zu seiner Familie nach Naoussa mitgenommen. Sie erinnerte sich immer noch gern daran, wie sie mit rotznasigen und zerlumpten Fischerkindern zum ersten Mal barfuß am Strand gespielt hatte und die Kinder sie mit einem Muschelkranz zur Königin krönten, weil sie so schönes Haar hatte und so feine Kleidung trug.
    Sie stand am Fenster ihres ausgeräumten Mädchenzimmers, griff nach ein paar vergessenen Keksen auf der Fensterbank und warf sie auf die Gasse. Sie beobachtete, wie sich laut grunzend zwei Schweine um die Beute stritten, und winkte der Dienerin aus dem Nachbarhaus zu, die mit einem Eimer Schmutzwasser die Schweine auseinander trieb. Es war einer jener warmen Januartage, an denen es fast nach Sommer roch und man sich nicht vorstellen konnte, dass sich der Februar, meistens der kälteste und feuchteste Wintermonat, wieder von seiner ungemütlichsten Seite zeigen könnte. Überall flatterte Wäsche, selbst der Schrei der Esel klang froher, und zwischen dem satten Grün der Berge schimmerten die weißen Landhäuser, die im Sommer bewohnt waren, wenn Hitze und Nordwind die wohlhabenden Bürger aus der Stadt trieben.
    »Warum kann ich nicht einfach allein auf Paros bleiben?«, sagte sie laut.
    »Weil ein neues Kapitel in deinem Lebensbuch aufgeschlagen wird«, hörte sie die Stimme ihres Onkels hinter sich. Pappas Mavros stellte sich zu ihr ans Fenster und setzte den grünen Kasten, den er getragen hatte, auf der Fensterbank ab.
    »Das kann auch auf Paros geschrieben werden«, erwiderte Mando trotzig. »Ich habe keine Angst hier vergiftet zu werden. Nur weil Mutter Gespenster sieht, muss ich mich meinem Schwager und meiner Schwester unterordnen!«
    »Deine Trauer lässt dich undankbar werden«, schalt Pappas Mavros sanft.
    Mando deutete auf den grünen Kasten.
    »Was wird hiermit geschehen?«, wechselte sie das Thema.
    Der Pope hob eine Augenbraue, eine Angewohnheit, die Mando schon als Kind vergeblich versucht hatte nachzuahmen.
    »Kennst du den Inhalt?«, fragte er zurück.
    Mando lachte.
    »Eine Erinnerung an das erste und einzige Mal, dass mich mein Vater geschlagen hat, kurz nachdem wir aus Triest hierher gezogen sind.«
    Sie erzählte, wie sie den grünen Kasten im Arbeitszimmer ihres Vaters entdeckt und aus Neugierde geöffnet hatte.
    »Ich war erst sechs Jahre alt, aber ich wusste, dass ich zum ersten Mal dem lieben Gott wirklich ins Gesicht blickte«, sagte sie ernst. »Ich habe die Statue herausgenommen und bin sofort in mein Kinderzimmer gerannt. Dort stand das Puppenhaus, das mir Dimitri gebastelt hatte …«
    »… und mit dem du zum Kummer deines Bruders nie gespielt hast«, nickte Pappas Mavros.
    »Puppen waren tot für mich, ich habe nie verstanden, weshalb Mädchen solche reglosen Dinger an- und ausziehen«, fuhr Mando fort. »Aber diese Figur war nicht tot, sondern richtig lebendig … Es war der liebe Gott, der auf seinem Thron saß und über mich richtete. Ich musste ihn gnädig stimmen, ihm ein Haus schenken … ihm opfern … Die Haupthalle in meinem Puppenhaus ging über alle drei Stockwerke. Ich habe das gesamte Mobiliar herausgefegt und den lieben Gott da mitten hineingesetzt. Ich habe mir nur über eins Sorgen gemacht …«
    »Dass er aufsteht und mit seinem Kopf gegen die Decke kracht?«, schlug Pappas Mavros leicht belustigt vor.
    »Woher wissen Sie das? Dauernd habe ich damit gerechnet, dass er sich erhebt und seinen reich geschmückten Thron verlassen will, weil es nichts zu richten gibt. Aber es hat sich jemand ganz anderes erhoben.«
    »Dein Vater.«
    »Ja. Ich habe ihn noch nie so wütend gesehen.«
    »Du hast etwas genommen, was dir nicht gehörte.«
    »Nein, das war es nicht. Es war viel schlimmer. Ich spürte, dass mein Vater Angst um die Figur hatte, so wie man Angst um einen Menschen hat.« Sie klopfte leicht gegen den Kasten. »Lassen Sie ihn mich noch einmal sehen, Pappas Mavros. Vielleicht
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