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Die Radleys

Titel: Die Radleys
Autoren: Matt Haig
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schlagzeuglastigen Musik. »Ich rufe gleich meine Mutter an. Sie wird mich abholen.«
    »Ich kann sie anrufen, wenn du willst.«
    Toby zupft Eve an der Bluse.
    »Ist schon gut«, sagt Clara.
    »Bist du sicher?«, fragt Eve und sieht sie an wie ein betrunkenes Reh.
    Clara nickt. Sie kann gerade nicht sprechen. Wenn sie jetzt etwas sagt, wird sie kotzen. Also atmet sie tief ein, tankt frische Nachtluft, aber das hilft überhaupt nicht.
    Und dann, als Eve und Toby wieder anfangen, sich zu küssen, wird die Übelkeit in ihrem Bauch intensiver und verstärkt durch einen scharfen, stechenden Schmerz.
    Das ist nicht gerecht.
    Clara schließt die Augen und sammelt von irgendwoher tief in ihrem Inneren die Kraft, die sie braucht, um aufzustehen und von all den fröhlichen Tänzern und küssenden Pärchen wegzukommen.

[Menü]
    EMPFANG
    Wenige Minuten später steigt Clara über einen Steinwall und betritt ein anderes Feld. Sie will ihre Mutter anrufen, hat aber keinen Empfang, also läuft sie einfach weiter. Nicht direkt auf die Straße zu – sie will sich aus dem Blickfeld der Partygänger entfernen –, sondern auf das angrenzende Feld, wo sich eine unauffälligere Möglichkeit bietet zu verschwinden.
    Sie holt ihr Telefon wieder hervor. Das kleine Empfangssignal ist immer noch durchgestrichen.
    Auf dem Feld liegen schlafende Kühe. Kopflose Umrisse in der Dunkelheit, wie Walrücken, die aus dem Meer auftauchen. Sie werden erst zu richtigen Kühen, als sie sich nähert und die Tiere erwachen, erschrecken, und sich in hastiger Verzweiflung von ihr entfernen. Sie geht trotzdem weiter und hinterlässt einen schmalen, diagonalen Trampelpfad Richtung Straße, während die Stimmen der Party allmählich abebben und zusammen mit der Musik verschwinden, irgendwo in der Nachtluft.
    Clara hat sich in ihrem ganzen Leben noch nie so elend gefühlt. Und das ist bei einem Leben voller Augenentzündungen, Dreitagesmigränen und wiederkehrender Durchfälle eine ziemliche Leistung. Sie sollte im Bett liegen, wie ein Embryo unter der Bettdecke zusammengerollt, und vor sich hin wimmern.
    Dann ist sie wieder da, diese entsetzliche Übelkeit, bei der sie sich wünscht, sie könnte ihrem eigenen Körper entfliehen.
    Sie muss stehen bleiben.
    Sie muss stehen bleiben und kotzen.
    Dann hört sie etwas. Schweren, keuchenden Atem.
    Das Feuer liegt inzwischen kilometerweit hinter ihr, ein fernes Leuchten hinter einer groben und buschigen Hecke zwischen den Feldern.
    Sie sieht eine massige Silhouette, die über den Boden hüpft.
    »He«, keucht es. Er keucht. »Clara.«
    Es ist Harper. Ihr ist so schlecht, dass sie eigentlich kaum darüber nachdenkt, warum er ihr gefolgt ist. Sie ist so benebelt, dass sie seine lüsternen Blicke vergessen hat und sich einbildet, er wäre ihr gar nicht gefolgt. Vielleicht hat sie ja auch etwas liegen gelassen und er will es ihr nur geben.
    »Was ist los?«, sagt sie. Sie richtet sich auf.
    Er tritt näher an sie heran. Er grinst breit und sagt nichts. Er ist unglaublich betrunken, denkt sie. Sie allerdings nicht. Harper ist ein großer Ochse und ein Schläger, aber ein eigenes Hirn traut sie ihm nicht zu. Und da Toby nicht in der Nähe ist, um ihm eins zu leihen, dürfte ihr eigentlich nichts passieren.
    »Du siehst hübsch aus«, sagt er und schwankt dabei hin und her wie ein großer Baum, den man unten am Stamm abgesägt hat.
    Seine tiefe, nasale Stimme zieht sie runter und verstärkt ihre Übelkeit.
    »Nein. Ich bin nicht hübsch. Ich …«
    »Ich dachte, du hast vielleicht Lust auf einen Spaziergang.«
    »Was?«
    »Einfach, du weißt schon, ein Stück gehen.«
    Sie ist verwirrt. Sie fragt sich noch einmal, was Toby zu ihm gesagt hat. »Ich gehe gerade ein Stück.«
    Er lächelt. »Ist schon gut. Ich weiß, dass du mich magst.«
    Das ist zu viel für sie. Im Moment fallen ihr sogar die üblichen höflichen Ausreden nicht ein, um ihn loszuwerden. Sie kann nichts weiter tun als einfach weiterlaufen.
    Aber irgendwie gelingt es Harper, sie zu überholen, er pflanzt sich ihr in den Weg und grinst, als würden sie sich gerade einen Witz erzählen. Einen Witz, der brutal werden könnte oder hässlich. Er geht rückwärts, während sie vorwärts läuft, bleibt vor ihr, während sie nichts nötiger braucht als niemanden in ihrer Nähe. Oder niemanden außer ihrer Mutter und ihrem Vater.
    Und jetzt sieht er plötzlich gefährlich aus, sein betrunkenes Gesicht entlarvt sein Potenzial an menschlicher Bosheit. Sie fragt sich, ob
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