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Die Rache der Jagerin

Die Rache der Jagerin

Titel: Die Rache der Jagerin
Autoren: Kelly Medling
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gesprochen hatte, machte mich noch nervöser.
    Als wir in Großvaters Siedlung einbogen – einem verwirrenden Labyrinth von Sackgassen, bekannt als Circle Village –, nahm der Himmel gerade die Farbe einer frischen Prellung an. Wir hielten am Haupttor, um uns anzumelden. Aber wie so oft schnarchte der alte Mann im Wärterhäuschen, und das Tor stand offen. Statt ihn zu wecken, fuhren wir einfach hindurch. Mein Handy piepte. Dad hatte mir eine SMS geschickt und wollte wissen, wie es lief. In der kurzen Zeit, die ich brauchte, um ihm zu antworten, schaffte es Ricky, sich zu verfahren. Als ich ihm sagte, dass ich keine Ahnung hätte, wo wir uns befänden, fluchte er und fuhr mit quietschenden Reifen eine Kehrtwende nach der anderen, wobei er im hohen Bogen Tabaksaft aus dem Fenster spuckte. Währenddessen suchte ich draußen nach irgendeinem Anhaltspunkt. Doch obwohl ich meinen Großvater in all den Jahren unzählige Male besucht hatte, fiel es mir nicht leicht. Die Häuser sahen alle gleich aus: flache Kästen mit geringfügigen Variationen wie Aluminiumleisten an den Kanten oder unterschiedlichem Holz. Manche erinnerten mit ihren Gipssäulen auch an ehrgeizigen Größenwahn. Die Straßenschilder, von denen die Hälfte vom Sonnenlicht ausgeblichen war, boten keine große Hilfe. Die einzig wirklichen Orientierungspunkte waren bizarre und farbenfrohe Rasenskulpturen, die Circle Village in das reinste Freilichtmuseum verwandelten.
    Endlich erkannte ich einen Briefkasten. Er wurde von einem Butler aus Metall emporgehalten, der trotz seiner hochnäsigen Miene rostige Tränen zu weinen schien. Ich rief Ricky zu, er solle links abbiegen. Die Reifen des Vics quietschten, und ich wurde gegen die Beifahrertür geschleudert. Als hätte das eine Blockade in meinem Kopf gelöst, lief es von nun an wie am Schnürchen. »Bei der Flamingo-Orgie rechts! Bei den multikulturellen Weihnachtsmännern auf dem Dach links! Geradeaus bis zu den pinkelnden Engeln!«
    Als wir schließlich hinter den Engeln abbogen, drosselte Ricky das Tempo gegen null und spähte zweifelnd an den Häusern entlang. Kein einziges Verandalicht brannte, kein Fernseher flimmerte hinter den Fenstern, kein einziger Wagen parkte in einem der Carports. Sämtliche Nachbarn waren nach Norden geflohen, um der mörderischen Sommerhitze zu entkommen, hatten ihre Gartenzwerge zurückgelassen, die im wild wuchernden Rasen erstickten, und die Fensterläden zum Schutz gegen Hurrikans fest verschlossen. Die Häuser wirkten wie pastellfarbene Luftschutzbunker.
    »Das letzte auf der linken Seite«, sagte ich. Ricky tippte das Gaspedal an, und wir stotterten die Straße entlang. Beim vierten oder fünften Haus wässerte ein alter Mann den knöchelhohen Rasen. Er war kahlköpfig wie ein Ei und trug Bademantel und Slipper. Das Haus hinter ihm war abgedunkelt und verbarrikadiert wie die anderen. Als der Vic an ihm vorbeirollte, wandte ich den Kopf in seine Richtung, und er schien meinen Blick zu erwidern – obwohl er das gar nicht konnte. Seine Augen waren milchig weiß. Ich erschrak. Wie sonderbar, dachte ich. Grandpa Portman hat nie erwähnt, dass einer seiner Nachbarn blind ist.
    Die Straße endete vor einer Wand aus Kiefern. Rick bog scharf links in Großvaters Einfahrt ein. Er schaltete den Motor ab, stieg aus und trat meine Tür auf. Als wir zur Veranda gingen, raschelten unsere Schuhe im trockenen Gras.
    Ich klingelte und wartete. Irgendwo bellte ein Hund, ein einsames Geräusch in dem hereinbrechenden, schwülen Abend. Als sich nichts regte, hämmerte ich gegen die Tür. Womöglich war ja die Klingel kaputt. Ricky schlug nach den Stechmücken, die uns sofort belagerten.
    »Vielleicht ist er ausgegangen«, sagte Ricky grinsend. »Zu einem heißen Date.«
    »Lach du nur«, sagte ich. »Wenn er will, läuft bei ihm mehr als bei uns. In dieser Gegend wimmelt es von heißblütigen Witwen.« Ich machte Witze, um mich zu beruhigen. Diese Stille war beängstigend.
    Ich holte den Reserveschlüssel aus dem Versteck in den Büschen. »Warte hier auf mich«, sagte ich.
    »Den Teufel werde ich tun! Warum?«
    »Weil du über eins neunzig bist, grüne Haare hast, mein Großvater dich nicht kennt, unter Verfolgungswahn leidet und jede Menge Waffen besitzt.«
    Ricky zuckte mit den Schultern und schob sich noch ein Stück Kautabak in die Wange. Dann ging er zu einem Gartenstuhl und machte es sich bequem. Ich schloss die Haustür auf und trat ein.
    Sogar in dem dämmerigen Licht konnte ich
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