Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Puppe: Psychothriller (German Edition)

Die Puppe: Psychothriller (German Edition)

Titel: Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
Autoren: Mo Hayder
Vom Netzwerk:
die Schlafanzughose. »Hier, bitte.«
    Während Moses sich anzog, wanderte AJ mit schräggelegtem Kopf im Zimmer umher und las die Worte an den Wänden.
    Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen .
    Und anderswo stand: Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf es von dir .
    Die Zeilen wurden ein paar Dutzend Mal wiederholt. Man würde sie abschrubben oder übermalen müssen.
    »Moses«, sagte AJ geduldig, ohne die Aufmerksamkeit auf die Schrift zu lenken, »wollen wir frühstücken gehen?« Aus langer Erfahrung als Pfleger in der Psychiatrie wusste er, dass nichts so wirkungsvoll war wie die Rede vom Essen, wenn es darum ging, das Thema zu wechseln oder einen Patienten abzulenken. »Heute gibt’s Waffeln mit Sirup.«
    Moses ging bereitwillig mit in den Speisesaal, obwohl er aussah wie jemand, der sich immer weiter von der Realität entfernte. Es war, als arbeiteten die Medikamente, die er normalerweise fast ohne Nebenwirkungen vertrug, plötzlich gegen ihn. Seine Hose hatte einen nassen Fleck, und Speichelfäden hingen wie schwere Perlenschnüre an seinem Mund. Die anderen Patienten machten einen weiten Bogen um ihn. In sich zurückgezogen, stand er still in der Schlange, presste eine Faust auf das rechte Auge und rieb es wie verrückt.
    Isaac Handel, ein knirpshafter Langzeitpatient mit einer Topffrisur, war der Erste, der bemerkte, dass die Sache ernst wurde.
    »Hey«, sagte er zu einer der Schwestern, »schauen Sie mal, schauen Sie.«
    Die Schwestern schauten hin. Moses hatte sich aus der Schlange gelöst und stand mit dem Rücken zum Raum, leicht vorgebeugt. Es sah aus, als kämpfe er mit seinem Gesicht. AJ begriff nicht gleich, was da vor sich ging. Statt sofort zu reagieren, bahnte er sich in Schlangenlinien umständlich seinen Weg durch den Speisesaal und lächelte dabei halb. Eher neugierig als beunruhigt, wollte er sehen, was Moses da tat.
    »Moses, mein Freund? Alles in Ordnung?«
    »Ein Löffel«, sagte Handel. »Er hat einen Löffel.«
    Die Patienten auf den Entlassungsstationen durften Löffel haben. Man hatte darin noch nie eine Gefahr oder Bedrohung gesehen. AJ näherte sich Moses von hinten. Er wollte ihm eben beruhigend die Hand auf den Rücken legen, als er sah, dass etwas vom Kiefer des Mannes baumelte. Genauer gesagt, es baumelte nicht, es tropfte. Es war Blut, und es floss in einem so gleichmäßigen Strom, dass er es für eine herabhängende Schnur gehalten hatte.
    »Ruhigstellung!«, schrie er und riss automatisch den Ring an seinem Panikalarm heraus. »Ruhigstellung, in den Speisesaal! Sanitäter!« Drei andere Pfleger kamen angerannt und versuchten, Moses zu packen und auf den Boden zu drücken. Aber er hatte die Kraft von zehn Männern. Er riss sich von AJ los und mühte sich weiter mit dem, was immer er da mit seinem Gesicht tat.
    »Ich hab den Kopf!«, schrie einer der Pfleger. »Linker Arm, linkes Bein!«, schrie ein anderer. » SCHAFFT ALLE HIER RAUS !«, schrie AJ.
    Weitere Mitarbeiter kamen im Laufschritt herein, und überall im Gebäude gellten die Panikalarme. Von Moses’ Gesicht kam ein seltsam scharfes, ploppendes Geräusch – kompakt und klar inmitten des chaotischen Lärms ringsum. Als AJ später seinen Bericht schrieb, musste er sich überlegen, wie er dieses Geräusch am besten beschreiben sollte, und er fand, es habe geklungen wie das Reißen einer Sehne und das fettige Schmatzen einer weißen Gelenkkapsel beim Auseinanderbrechen einer gegrillten Hühnerkeule (seit dem Tag isst er kein Hühnchen mehr). Aber natürlich kam das Geräusch nicht von einer Hühnerkeule. Eine Art Kugel, wie ein Ei mit blutigem Eiweiß, rutschte an feuchten Fäden auf Moses’ Wange herunter. Der Löffel landete klappernd auf dem Boden. Moses fiel auf die Knie und kippte dann halb ohnmächtig auf die linke Hand.
    » Sanitäter! «, brüllte AJ. »Holt doch schon einen verdammten Sanitäter! Sanitäter, Sanitäter, Sanitäter …! «
    Durchschnittlich
    Die Nachtschicht scheint kein Ende zu nehmen. AJ hat versucht, zu arbeiten wie immer; er hat seine Berichte fertiggestellt, noch ein paar Rundgänge über die Stationen gemacht und drei Mal zu Monster Mother hineingeschaut, und jede einzelne Minute war ihm zuwider. Vor allem das Alleinsein in seinem Büro. Es ist überheizt, und die Fenster machen tickende Geräusche, wenn sie sich bei Temperaturwechseln ausdehnen oder zusammenziehen. Immer wenn er versucht hat, ein bisschen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher