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Die Puppe an der Decke

Die Puppe an der Decke

Titel: Die Puppe an der Decke
Autoren: Ingvar Ambjörnsen
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Ein Brief von Siri Ljoen. Siri Ljoen?
    Oben am Hang geht eine Lawine herunter. Nein, kein Feldstein hat sich gelockert, wurde von der Erde losgelassen. Keine Felsnase bricht ab und taumelt nach unten. Die Erde lässt sich selber los. Die tiefen Tonschichten bersten, reiben in der Tiefe, die niemand sehen kann, ihre unsichtbaren Flächen aneinander. Rebekka wird sich ihrer selbst bewusst, sie hängt in der Luft, hoch oben über den Tannenwipfeln. Es sind dunkle, alte Tannen, aber jetzt ist Frühling, neue Zeit, hier gibt es keinen Ochsenkarren, sondern nur den trockenen Weg dort unten, der sich zur Anhöhe hochwindet, nur den Bach, der plätschert, das Wasser über den glatten Steinen dort unten, die hellen fetten Knospen an den Zweigen. Es ist eine Landschaft in tiefer Ruhe, und sie ist körperlos: nur die vage Erinnerung an die Brust, die sich hebt und senkt, an den Atemzug.

21
    Er hatte Recht. Jetzt im Winter war es schön am Fjord. Nacht. Winternacht. Er hatte sie von innen bis außen warm eingehüllt, sie saß auf der hintersten Ruderbank und kam sich vor wie ein Eskimo. Sie betrachtete seine Hände, die die Ruder führten, und hinter ihm funkelten die Lichter der Stadt wie ein Spiegelbild des Sternenhimmels. Er ruderte mit ruhigen Zügen. Die ganze Zeit waren Eiskristalle unter dem Rumpf zu hören, das Knirschen der Ruder in den Dollen, monoton. Und sein Gemurmel. Ebenfalls monoton. Zerstreutes Lächeln. Ab und zu ein glucksendes Lachen, es ging um diese Briefe. Und um Siri Ljoen, natürlich. Ihm gefiel die Vorstellung von der alten Grundschullehrerin, die hier mitten in der Idylle auf eine besudelte Vergangenheit gestoßen war. Wie viele Briefe? Hundert? Zweihundert?
    Sie gab keine Antwort. Wusste es nicht mehr. Jede Menge Briefe jedenfalls.
    Er schüttelte den Kopf, ohne das Lächeln aufzugeben. Sagte, es wäre mehr als genug, wenn zwei Dutzend anbissen, dann würde das Entsetzliche zur Wahrheit werden. Zumindest wahr genug wirken. Und Niels Petter? Der gerade ein Haus gebaut und Wurzeln geschlagen hatte. Der arme Kleine.
    Seine Worte trafen irgendwo am Rand ihres Bewusstseins auf. Bei »der arme Kleine« fühlte sie sich auf eine andere Ruderbank zurückversetzt, in eine andere Zeit. Sie hatte oft so gesessen, das jedoch an Sommertagen oder während der Dämmerung, auf dem Rückweg zum Strand, vom Angeln im seichten Wasser. Es war ein Bild dieser Ausflüge, das haften geblieben war, und als sie jetzt Leos Hände betrachtete, stieg es wieder in ihr auf; der Großvater zog den Anker hoch. Die langen zähen Ruderschläge, bloße Fäuste, die das grobe Hanfseil aus der Tiefe holten, und meterlange Tangdolden, Büschel aus roten und gelben Quallenfäden. Der Großvater, der Übermensch, denn was wissen Stadtmädchen schon von Lederhaut und jahrelanger Abhärtung? Innerlich hatte sie geschaudert, und auch jetzt lief es ihr kalt den Rücken hinunter.
    »Das mit der Absenderadresse war ein kluger Zug«, sagte er. »Gibt es die wirklich?«
    »Lass uns zurückfahren«, sagte sie.
    Und dachte: Wen interessiert denn so was?
    Er hielt an und nahm den Kaffeebecher vom Boden. Trank kalten Kaffee und spuckte gelblich aus. »Er hätte deine Witterung genommen. Wenn ich nicht wäre, dann hätte er jetzt deine Witterung genommen. Das ist dir doch klar?«
    Ja. Sie freut sich über die Schuld, die jedes Mal wächst, wenn sie bei einer Tasse Kaffee im Stjernesti sitzt und in der Diele das Telefon schellt. Dann kommt es sogar vor, dass ihr eigenes Gemüt sich mit dem der anderen vermischt. Es ist seltsam, aber so hat es sich entwickelt. Und sie denkt, dass nichts so gefährlich ist, wie er glaubt. Dass er sich eine größere Rolle zuschreibt, als er in Wirklichkeit hat, und dass das gut so ist. Es gibt keine Verbindungen. Das Ganze liegt zehn Jahre zurück. Sie und Stina tragen unterschiedliche Nachnamen. Die Opfer … eine lange, lange Reihe. Viel mehr als nur die, die seinen Namen vor Gericht genannt haben. Keine kleinen Knaben. Erwachsene Frauen.
    Sie parkte unten am Hang. Durch die nackten Zweige konnte sie sehen, dass im Wohnzimmer im ersten Stock Licht brannte. Sie dachte an die Diskette, die in der Wand hinter der Kommode in der Ritze steckte, und an die leere Festplatte in ihrem Laptop. Es war Viertel nach zwei, und sie ging neben dem Kiesweg her durch den Garten und um das Haus. Für einen Moment blieb sie stehen und betrachtete die Kellerluke mit der abgesplitterten Farbe, ein verschlossener Rachen, der ihr einmal einen
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