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Die Puppe an der Decke

Die Puppe an der Decke

Titel: Die Puppe an der Decke
Autoren: Ingvar Ambjörnsen
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Umgebung in einem kantigen Blauton wahr, der in unregelmäßigen Abständen pulsierte. Der Nachbar, der Schnee schaufelte, abgehackt, blau, kalt, elektrisch, Schaufel um Schaufel, schwuff, schwuff, das Geräusch des feuchten Schnees, der seufzend das Aluminium losließ und gegen die Garagenwand geschleudert wurde. Der Boden, auch er blau, im Halblicht, wenn die Kinder zum weiter unten gelegenen Gebetshaus hin rutschten und sprangen. Sie lief durch das leere Haus und fröstelte, sie heizte wie besessen, und es war nicht kalt, aber sie fröstelte trotzdem die ganze Zeit. Zum Fenster und zurück, zum Fenster und zurück, unter ihr lag die Stadt und war blau, und hier kamen die Wände auf sie zu, eine Lawine ging ab, die ganze Zeit ging in ihr eine Lawine ab, und noch immer musste sie über die vielen Seltsamkeiten lachen, die sich hier abspielten. Es war der dritte Weihnachtstag, und sie dachte, jetzt wird die Post ausgetragen, jetzt wird sie in jeden einzelnen Haushalt gebracht, verspätete Weihnachtskarten, die gelesen und mit einer Grimasse weggeworfen werden. Rechnungen, die allen Wünschen für ein gutes neues Jahr trotzen. Jetzt wird die Post ausgetragen und in die grünen Blechkästen in Fiolvei, Prinsens gate und Stjernesti gesteckt. Die Menschen sitzen in ihren Häusern und Wohnungen, wo der Duft frisch gekochten Kaffees schwer und einladend über den Frühstückstischen hängt; es ist die Zeit zwischen den Jahren, der Friede zwischen der Geburt des Erlösers und dem Tod des alten Jahres. Da sitzen sie mit ihren dampfenden Kaffeetassen und reichen Butter, Kräuterhering und Sülze herum, alles Gute, das sie miteinander teilen wollen. Es ist Alltag, aber nicht ganz, denn obwohl Läden, Postämter und Banken geöffnet haben, ist die ganze Woche von dieser satten Ruhe durchsäuert, dem Segen des Weihnachtsfestes.
    Rebekka legt sich angezogen ins Bett, und als sie die Augen schließt, hört sie ein Klicken. Klar und deutlich sieht sie, wie die behandschuhte Hand des Postboten sich vom Briefkastendeckel zurückzieht, langsam, Zeitlupe, die Hand scheint ihr eigenes Bewusstsein zu besitzen, scheint zu denken: Was habe ich getan? Habe ich den Brief in den Kasten gesteckt? Habe ich DEN Brief in den Kasten gesteckt? Sie hört die Stiefel im Schneematsch, als der Bote zurückweicht, umdreht, zum nächsten Kasten weitergeht, während die Hand, die verdammte Hand, in der Tasche nach einem weiteren Brief greift, und noch einem und noch einem, mit Siri Ljoens Adresse auf der Rückseite.
    In der Küche. Am Tisch aus Kiefernholz mit der roten Weihnachtsdecke. Kerzen. Nina Granum, die ins Graubrot beißt, die Zähne durchbohren den dänischen Sahnekäse, die dicke Schicht Butter, die ganze Brotscheibe, bis sie in einem fast lautlosen Knacken aufeinandertreffen, das durch die Irrgänge des Gehirns geschleudert wird. Da ist die Post, denkt sie, während die Speicheldrüsen arbeiten und das Brot zerkaut, verschluckt wird.
    »Da ist die Post«, sagt Nina Granum und trinkt einen Schluck Milch.
    »Bleib du nur sitzen«, sagt Niels Petter. Er fährt mit der Hand über den Kopf seines Sohnes, als spreche er mit ihm, der Sohn sitzt im Kinderstuhl und saut mit den Resten von zwei halben Brotscheiben herum.
    Er erhebt sich und weiß nicht, dass er sich zum allerletzten Mal wirklich erheben kann. Hier an diesem Tisch aus Kiefernholz in dem Haus, das jetzt sein neues Heim ist, hier kann er sich mit dem vollen Gewicht und der Entschlossenheit eines erwachsenen Mannes erheben. Im Briefkasten liegt Post. Nun gut. Dann holt Vater die Post herein. Iss du nur, meine Liebe. Esst ihr nur. Vater und Liebhaber geht hinaus und holt die Post herein. Um ihr eine Freude zu machen, zieht er die neue Strickjacke an, draußen ist es nicht kalt, aber er will ihr eine Freude machen, so wie sie ihm eine Freude machen wollte, als sie am Vormittag des Heiligen Abends das Paket unter den Baum gelegt hat. Die Luft draußen ist klar und frisch, vom Meer her riecht es nach Salz, und ein jäher Windstoß treibt den Rauch aus dem Schornstein der Nachbarn zu ihm herüber, er wird vom Duft des aufgelösten Birkenholzes eingehüllt, bald aber ist der Wind anderswo, er pflügt sich seinen Weg durch den Wald, den lebendigen. Wie viele Schritte hat er vor sich? Dreiundzwanzig. Es sind dreiundzwanzig Schritte von der Haustür bis zum Briefkasten unten am Zaun. Rebekka hat sie gezählt. Es sind dreiundzwanzig Schritte. Dort. Der Kasten. Der Brief. Ein Brief an ihn und Nina.
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