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Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Titel: Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
Autoren: Patrick Bauer
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verängstigten Mittelschicht.
    Als ich wieder in Berlin bin, verabrede ich mich mit Miriam, die mit Ahmed und mir gemeinsam die Grundschule besucht hat. Miriam und ich haben uns in der dritten Klasse geküsst, wenn man das so nennen kann. Miriam presste mir ihre Lippen auf die Wange. Die anderen Kinder sangen daraufhin: »Wer sich küsst, der liebt sich!« Wir haben uns dann nur noch getriezt. Die anderen Kinder sangen daraufhin: »Was sich neckt, das liebt sich!« Viele Jahre sind wir uns aus dem Weg gegangen. Jetzt hatten wir uns, wie das so ist, im Internet wiederentdeckt und spontan verabredet. Miriam ist heute selbst Grundschullehrerin, in Kreuzberg. Miriam erzählt, sie sei gerade entlassen worden. »Guck nicht so«, sagt sie, als ich noch überlege, wie man auf jemanden reagiert, der gerade entlassen worden ist, »das ist ganz normal!« Frisch eingestellte Lehrer werden in Berlin kurz vor den Sommerferien entlassen – und zu Beginn des neuen Schuljahres wieder eingestellt, für ein halbes Jahr zumindest. Das Land Berlin muss sparen. Berlin kann sich keine Lehrer mehr leisten, die bezahlten Urlaub nehmen, und die jungen Lehrer, die gerne in der Hauptstadt arbeiten wollen, können sich keine Ansprüche leisten. Berlin braucht sie, kann ihnen aber nichts bieten. Miriam musste auf ihrer Schule prompt die »schlechte Klasse« übernehmen, eine dritte Klasse. Es gibt zwei Klassen pro Jahrgang. In die »schlechte Klasse« gehen jeweils nur Kinder aus nichtdeutschen Familien. In die »gute Klasse« fast nur deutsche Kinder. Was nach frühsteinzeitlicher Pädagogik klingt, war die letzte Chance für Miriams Schule, überhaupt noch deutsche Kinder aufnehmen zu können. Denn deren Eltern drohten angesichts eines »Ausländeranteils« von weit über fünfzig Prozent, ihre Kleinen in die Berliner Randbezirke oder Zugezogenen-Reservate wie Prenzlauer Berg zu fahren, wo »man noch unter sich ist« und daher auch ein besseres schulisches Niveau erwartet. Es gibt seit Jahren regelrechte Fluchtbewegungen von deutschen Eltern, die ihre Kinder nicht in den Problembezirken zur Schule schicken wollen. Um diesen Wegzug zu stoppen, gehen auf Miriams Schule jetzt die Kinder mit schlechten Sprachkenntnissen in eine Klasse und lernen nichts voneinander – und die ohnehin begabten und geförderten Schüler, die Deutschen, bleiben in der anspruchsvollen Klasse unter sich.
    »Ich sitze dort, erkläre, dass der Wannsee kein Meer ist, und komme mir vor wie Michelle Pfeiffer in ›Dangerous Minds‹«, sagt Miriam. Vor den Sommerferien sollte sie ihre Klasse einem altgedienten Kollegen übergeben, man werde sie im neuen Schuljahr woanders einsetzen, hieß es. Miriam erklärte dem Kollegen, was sie sich im vergangenen Schuljahr hatte einfallen lassen. Statt den Kindern mit »Strafpunkten« für nichtgemachte Hausaufgaben und freches Verhalten zu drohen, hatte sie »Belohnungspunkte« für gemachte Hausaufgaben und gute Unterrichtsteilnahme eingeführt. Für eine gewisse Anzahl an »Belohnungspunkten« gab es Geschenke und Lobbriefe an die Eltern. Es funktionierte. Die Mädchen und Jungen eiferten darum, wer am Ende die meisten Punkte haben würde. Plötzlich konnten alle fehlerfrei addieren und subtrahieren, wussten, wie die Hauptstadt von Rumänien heißt – und wollten unbedingt neue Bücher mit in die Ferien nehmen. »Die Kinder hatten das Gefühl, dass es jemanden interessiert, was sie machen, das hat sie motiviert«, sagt Miriam. Ihr älterer Kollege war von diesem Konzept nicht begeistert. »Wissen Sie«, sagte er, »solche Spielereien sind ja schön und gut, wenn man neu im Geschäft ist und Träume hat, aber wenn man weiß, wie es läuft, dann weiß man auch, dass so etwas keinen Sinn hat, man kann die Welt hier nicht verändern, und man kann die Schüler nicht zu anderen Schülern machen. Ich werde mit Strafpunkten arbeiten, sonst lernen die nie, sich zu benehmen.« Miriam wollte immer in ihrem Heimatbezirk unterrichten, sie sagt, die Kinder hier brauchen Vorbilder, die selbst in Kreuzberg aufgewachsen sind. Aber offenbar ist ihre Hilfe nicht erwünscht.
    Heute ist Kreuzberg auf den ersten Blick viel attraktiver als noch vor zwanzig Jahren. An jeder Ecke gibt es Boutiquen und Latte-Macchiato-Cafés. Einst als Studenten hierhergezogen, wohnen die jungen Eltern nun in Vier-Zimmer-Wohnungen mit Fischgrätparkett, trinken einmal im Jahr auf dem »Karneval der Kulturen«, einem Straßenumzug mit exotischen Tänzen aus aller Welt und
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