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Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Titel: Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit
Autoren: Patrick Bauer
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Deutsch-Nachhilfeunterricht.« »Bitte, kommen Sie wieder besuchen«, schreit der Junge an meinem Arm. »Mal sehen«, sage ich. »Bitte, bitte, bitte«, schreit er. »Ja, ja, Tuncay, der Mann kommt bestimmt noch mal«, sagt Frau Schach und wirft mir einen beruhigenden Blick zu. Sie setzt Tuncay einen Schulranzen auf, der doppelt so viel wiegt wie er – und dann schaukelt der Junge aus dem Klassenzimmer. »Ich glaube, Tuncay bekommt nicht viel Aufmerksamkeit zuhause«, sagt Frau Schach, »aber jetzt lass uns einen Kaffee trinken gehen. Ich muss hier raus.«
    Auf einem der gebohnerten Gänge kommt uns Herr Sontheimer entgegen. Mit diesem unterkühlten Herr-Sontheimer-Gesicht. Es war ein Schock, als er für die letzten zwei Jahre unsere Klasse von Frau Schach übernahm: Nun gab es Zensuren und Strafarbeiten, es war Schluss mit den Umarmungen. Mir verordnete Herr Sontheimer prompt Schreibübungen für Erstklässler, weil meine Schrift so unlesbar war. Das ist sie noch heute, es hat wenig geholfen, dass ich viele Seiten lang Kringel nachzeichnen musste. Vielleicht wollte uns Herr Sontheimer auf die Härte und die Monotonie der Welt da draußen hinter dem roten Eingangstor vorbereiten. Beliebt hat ihn das nicht gemacht.
    Herr Sontheimer grüßt Frau Schach und mich nicht, er scheint uns gar nicht zu sehen. Ich verspüre dieses Ziehen im Magen, das ich immer verspürte, wenn Herr Sontheimer mich fragte, ob ich die Mathe-Hausaufgabe erledigt hätte oder ob er mal meinen Hefter kontrollieren könne. Meine Stimme versagt. Dann ist Herr Sontheimer schon wieder weg. »Hast du Herrn Sontheimer gar nicht erkannt?«, fragt Frau Schach. »Doch«, sage ich, »aber ich war gerade so … perplex.« »Verstehe ich«, sagt sie.
    Ehemalige Lehrer wiederzutreffen ist verstörend. Man hat sie einst bewundert, geachtet, gefürchtet, gehasst, geärgert oder geliebt – und viele Jahre später steht man vor Männern und Frauen, die einem leid tun oder von denen man enttäuscht ist, weil man sie in jeder Hinsicht überholt hat und sich fragt, warum man sie einst bewundert, geachtet, gefürchtet, gehasst, geärgert oder geliebt hat. Mit Grundschullehrern ist es besonders schlimm: Man war damals, verglichen mit heute, nicht nur dumm, sondern sehr dumm. Die Lehrer, die einem Schreiben und Lesen und Denken beibrachten, waren daher zwangsläufig sehr schlau. Allwissende. Nur: Seitdem haben sie nicht viel dazugelernt, man selbst im Zweifel schon. Frau Schach aber ist einfach Frau Schach und es ist ziemlich offensichtlich, warum wir sie gemocht haben. Man fühlt sich wohl in ihrer Anwesenheit, geborgen. Sie kann zuhören und sie kann erzählen. Sie hat die Geduld und die Gelassenheit einer Frau, die sich in den letzten zwanzig Jahren knapp vierhundert Kindernamen merken musste. Und Herr Sontheimer, das kann ich nach diesem kurzen Wiedersehen schon sagen, hat auf mich ebenfalls noch dieselbe Wirkung, die er zu Schulzeiten hatte: Er macht mir Angst.
    Wir sitzen in einem dieser neuen Cafés, von denen es rund um die Schule plötzlich viele gibt. Zu unserer Zeit gab es weit und breit nur den alten Getränkeladen, in dem wir in der großen Pause Cola kauften und Kaugummis klauten. Frau Schach sagt: »Für mich ist das immer sehr komisch, wenn mal ein ehemaliger Schüler vorbeikommt. Für euch war die Schule hier nur das erste Kapitel. Ich bin immer noch da. Andererseits ist das schön an meinem Beruf: dass ich vielen Kindern auf die Sprünge helfe und was mitgebe und dann kommen sie wieder und erinnern sich gerne an ihre Grundschulzeit. Obwohl, ich weiß nicht, ob die Kinder von heute mich in zwanzig Jahren besuchen.«
    Es hat sich auch im Leben von Frau Schach, Mitte Fünfzig, einer der wenigen Urberlinerinnen in Berlin, einiges verändert. Sie hat sich von ihrem Mann getrennt, der immer einen Blaumann trug, wenn er sie von der Schule abholte. Sie hat die beiden Töchter alleine großgezogen. Beide sind nun in der Welt unterwegs, die eine mit dem Rucksack, die andere für eine Umweltorganisation. Sie nimmt Proben von verseuchten Flüssen, baut Kläranlagen. Beide wollen die Welt retten, sagt Frau Schach, die an der Blücher-Grundschule auch ein bisschen die Welt rettet, aber das bekommt kaum jemand mit. Die Töchter haben der Mutter »Skype« auf dem alten Computer installiert und einmal in der Woche sieht Frau Schach dann diese jungen Frauen, die mal ihre Mädchen waren, im Schein von Anti-Moskito-Kerzen auf irgendeiner Veranda irgendeiner
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