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Die Opferstaette

Die Opferstaette

Titel: Die Opferstaette
Autoren: Patrick Dunne
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Digitalkamera aus der Tasche. »Ich mache lieber ein paar Fotos, für den Fall, dass der ganze Abfallhaufen weggespült wird.«
    Auf dem Rückweg blieb Mahon plötzlich stehen. »He, sehen Sie sich das an«, sagte er und bückte sich, um etwas von einer Stelle aufzuheben, wo noch viel von dem abgerutschten Erdreich lag. »Das ist von einem Menschen.«

    Er legte das Fundstück auf seine breite Handfläche und hielt es mir entgegen. Es war ein kompletter Unterkiefer.
    »Das ist wirklich interessant«, sagte ich. »Aber rühren Sie sich erst mal nicht vom Fleck. Ich schaue mich um, ob es noch mehr Knochen gibt.« Ich wollte nicht, dass wir beide darauf herumtrampelten.
    Die meisten Muschelhaufen stammen aus der Bronzezeit oder später, aber menschliche Überreste würden darauf hindeuten, dass dieser hier aus der Steinzeit war; manche mesolithischen Gesellschaften bestatteten ihre Toten, indem sie sie den Elementen aussetzten, bis das Fleisch von den Knochen gefault war.
    Ich sah keine weiteren Skelettteile herumliegen, aber ich fragte mich jetzt, ob andere der in den Muschelhaufen eingebetteten Knochenfragmente womöglich ebenfalls menschlichen Ursprungs waren.
    »Sehen Sie sich das nur gut an«, sagte Mahon, während ich mich ihm vorsichtig näherte.
    Ich betrachtete den Unterkiefer, der in seiner Handfläche lag, genauer. Alle Zähne schienen noch vorhanden zu sein, aber sie waren von einer Menge zusammengebackener Erde bedeckt.
    Ich untersuchte abwechselnd die beiden Unterkieferäste, die senkrechten Abschnitte, die den Unterkiefer mit dem Schädelknochen verbinden. »Hey, schauen Sie hier«, sagte ich und deutete auf den u-förmigen oberen Teil des rechten Astes. »Sieht aus wie Biss- oder Schnittspuren.«
    »Sieht für mich wie angenagt aus«, sagte Mahon, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte. »Höchstwahrscheinlich von Aasfressern.«
    »Nanu, was ist das?« Ich hatte mit dem Fingernagel etwas Sand aus demselben Teil des linken Astes gekratzt. Es gab weitere,
jedoch tiefere Schnitte im Knochen und – was noch aussagekräftiger war – eines der U-Häkchen war ganz abgetrennt worden.
    Die Zerstückelung des verwesten Körpers war der nächste Schritt bei der prähistorischen Leichenentsorgung. Und an Stellen, an denen die Knochen noch von Bändern und Sehnen zusammengehalten wurden, hatte man das Skelett auseinandergeschnitten.
    Mahon hielt den Unterkiefer am intakten rechten Ast fest und drehte ihn zu sich herum. »Na, mein Hübscher. Und was hast du uns nach all der Zeit zu sagen?«
    »Machen wir lieber ein paar Fotos, ehe wir ihn wegnehmen«, sagte ich. Ich wollte den Fund nicht unnötig bewegen und überlegte bereits, wie wir ihn transportieren konnten.
    »Natürlich.« Mahon legte ihn dorthin zurück, wo er ihn gefunden hatte, und trat beiseite.
    Ich begann, aus verschiedenen Winkeln Bilder von dem Kiefer und dem Abfallhaufen zu machen. Zum Glück hatte ich den Regen im Rücken – er war nicht heftiger geworden, aber er schien uns waagrecht entgegenzukommen.
    Mahon stocherte in dem Abfallhaufen. »So schlecht ist die globale Erwärmung wohl doch nicht, wenn sie uns zu solchen Funden verhilft.«
    Selbst als Archäologin erschien es mir nicht als guter Tausch. Ich lenkte das Gespräch in eine leicht andere Richtung. »Aber der Meeresspiegel steigt in diesem Gebiet seit rund zehntausend Jahren, oder?«
    »Stimmt. Es gibt sogar einen untergegangenen Wald aus der Steinzeit nicht weit von hier.« Er steckte eine Hand in die Jacke. »Und einer Legende zufolge befindet sich in der Mündung des Flusses eine Kirche im Meer. Wahrscheinlich stand
sie früher einmal an Land. Voilà!«, rief er aus und holte einen Zahnstocher hervor.
    Ich ließ die Kamera sinken.
    »Fertig?«
    »Ja. Ich brauche nur noch etwas …« Ich suchte in dem herumliegenden Müll nach einem Transportbehälter. Als ich gerade die abgebrochene Ecke einer Fischkiste ausprobieren wollte, bemerkte ich, dass Mahon den Kiefer wieder in die Hand genommen hatte.
    »Damit du auf deiner Reise einen guten Eindruck machst«, sagte er zu ihm und schwang den Zahnstocher. Nachdem er etwas von der festgeklebten Erde gelockert hatte, drehte er den Knochen um und stieß ihn ein paar Mal mit dem Zeigefinger an. »Und ich denke, ein letztes Foto geht auch in Ordnung.« Er hielt den Unterkiefer vor sein Kinn und grinste durch ihn hindurch, dann schob er ihn etwas höher, sodass sein Bart aus ihm herauszuwachsen schien. » Cheese .«
    Ein bisschen krass, dachte
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