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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen
Autoren: Paul Auster
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keineswegs. Ich erwarte nichts von dir.»
    «Was willst du dann?»
    «Ich habe dir etwas zu geben. An einem bestimmten Punkt wurde mir klar, dass ich dir eine Erklärung für das schulde, was ich getan habe. Zumindest den Versuch. Ich habe die letzten sechs Monate versucht, es zu Papier zu bringen.»
    «Ich dachte, du hättest das Schreiben endgültig aufgegeben.»
    «Das ist etwas anderes. Es hat nichts mit dem zu tun, was ich früher gemacht habe.»
    «Wo ist es?»
    «Hinter dir. Auf dem Boden des Schranks unter der Treppe. Ein rotes Notizbuch.»
    Ich drehte mich um, öffnete die Schranktür und nahm das Notizbuch. Es war ein normaler Spiralblock mit zweihundert linierten Seiten. Ich warf rasch einen Blick herein und sah, dass alle Seiten vollgeschrieben waren: die gleiche vertraute Handschrift, die gleiche schwarze Tinte, die gleichen kleinen Buchstaben. Ich stand auf und kehrte zu dem Spalt zwischen den Türflügeln zurück.
    «Was nun?», fragte ich.
    «Nimm es mit nach Hause. Lies es.»
    «Was, wenn ich nicht kann?»
    «Dann heb es für den Jungen auf. Er möchte es vielleicht sehen, wenn er erwachsen ist.»
    «Ich glaube nicht, dass du das Recht hast, das zu verlangen.»
    «Er ist mein Sohn.»
    «Nein, das ist er nicht. Er ist mein Sohn.»
    «Ich bestehe nicht darauf. Dann lies es selbst. Es ist ohnehin für dich geschrieben worden.»
    «Und Sophie?»
    «Nein. Ihr darfst du nichts sagen.»
    «Das ist das eine, was ich nie verstehen werde.»
    «Sophie?»
    «Wie du sie so im Stich lassen konntest. Was hat sie dir getan?»
    «Nichts. Es war nicht ihre Schuld. Das musst du allmählich wissen. Es war mir nur nicht bestimmt, wie andere Menschen zu leben.»
    «Wie war es dir bestimmt zu leben?»
    «Das steht alles im Notizbuch. Was immer ich jetzt sagen könnte, würde nur die Wahrheit entstellen.»
    «Gibt es sonst noch etwas?»
    «Nein, ich glaube nicht. Wir sind wahrscheinlich am Ende angekommen.»
    «Ich glaube nicht, dass du die Nerven hast, mich zu erschießen. Wenn ich jetzt die Tür aufbräche, würdest du gar nichts tun.»
    «Riskiere es nicht. Du würdest für nichts sterben.»
    «Ich würde dir den Revolver aus der Hand reißen. Ich würde dich bewusstlos schlagen.»
    «Das hat keinen Zweck. Ich bin schon tot. Ich habe schon vor Stunden Gift genommen.»
    «Ich glaube dir nicht.»
    «Du kannst nicht wissen, was wahr oder nicht wahr ist. Du wirst es nie wissen.»
    «Ich rufe die Polizei. Sie werden die Tür einschlagen und dich ins Krankenhaus bringen.»
    «Ein Geräusch an der Tür – und eine Kugel geht durch meinen Kopf. Du kannst so oder so nicht gewinnen.»
    «Ist der Tod so verlockend?»
    «Ich habe nun so lange mit ihm gelebt, dass er das Einzige ist, was mir bleibt.»
    Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Fanshawe hatte mich erschöpft, und als ich ihn auf der anderen Seite der Tür atmen hörte, hatte ich das Gefühl, als würde das Leben aus mir herausgesogen. «Du bist ein Narr», sagte ich, unfähig, etwas anderes zu denken. «Du bist ein Narr, und du verdienst es zu sterben.» Dann, überwältigt von meiner eigenen Schwäche und Dummheit, begann ich, wie ein Kind mit den Fäusten gegen die Tür zu schlagen, zitternd und stotternd, den Tränen nahe.
    «Du gehst jetzt besser», sagte Fanshawe. «Es gibt keinen Grund, dies in die Länge zu ziehen.»
    «Ich will nicht gehen», sagte ich. «Wir haben noch miteinander zu sprechen.»
    «Nein, es ist vorbei. Nimm das Notizbuch und fahr nach New York zurück. Das ist alles, worum ich dich bitte.»
    Ich war so erschöpft, dass ich einen Moment lang glaubte, ich würde umfallen. Ich klammerte mich an die Türklinke, um mich zu stützen, in meinem Kopf wurde es schwarz, und ich kämpfte gegen eine Ohnmacht an. Ich erinnere mich nicht mehr, was danach geschah. Ich fand mich draußen wieder, vor dem Haus, den Schirm in der einen Hand und das rote Notizbuch in der anderen. Es hatte aufgehört zu regnen, aber die Luft war noch rau, und ich konnte die Feuchtigkeit in meinen Lungen spüren. Ich beobachtete einen großen Lkw, der im Verkehr vorbeirumpelte, und folgte seinem roten Schlusslicht, bis ich es nicht mehr sehen konnte. Als ich aufblickte, sah ich, dass es beinahe schon dunkel war. Ich begann, mich vom Haus zu entfernen, setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen, und war nicht in der Lage, mich darauf zu konzentrieren, wohin ich ging. Ich glaube, ich fiel ein- oder zweimal hin. Ich erinnere mich, dass ich einmal an einer Straßenecke wartete
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