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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen
Autoren: Paul Auster
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mich, ihn zu verfolgen, machte mich rasend vor Entschlossenheit. Ich hatte keinen Plan, keine Idee, was ich tun wollte, aber ich folgte ihm ohne den geringsten Zweifel, ich wusste, dass mein ganzes Leben davon abhing. Ich muss betonen, dass ich mittlerweile völlig klar im Kopf war – ich schwankte nicht, ich war nicht mehr betrunken. Mir war bewusst, dass ich mich unverschämt benahm. Stillman war nicht Fanshawe – ich wusste das. Er war willkürlich herausgegriffen, vollkommen unschuldig. Aber gerade das erregte mich – die Willkür, das Schwindelgefühl des reinen Zufalls. Es hatte keinen Sinn, und gerade deshalb hatte es allen Sinn der Welt.
    Dann konnte man nur noch unsere Schritte auf der Straße hören. Stillman blickte wieder zurück und sah mich endlich. Er begann rascher zu gehen und fiel in Trab. Ich rief ihm nach: «Fanshawe.» Ich rief ihm noch einmal nach: «Es ist zu spät. Ich weiß, wer du bist, Fanshawe.» Und in der nächsten Straße: «Es ist vorbei, Fanshawe. Du entkommst mir nicht.» Stillman antwortete nicht, er drehte sich nicht einmal um. Ich wollte weiter mit ihm sprechen, aber nun rannte er, und wenn ich zu sprechen versucht hätte, würde das nur mein Tempo verlangsamt haben. Ich hörte auf, ihn zu verhöhnen und lief hinter ihm her. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir rannten, aber es schien Stunden zu dauern. Er war jünger als ich, jünger und kräftiger, und ich verlor ihn beinahe, schaffte es beinahe nicht. Ich hetzte die dunkle Straße entlang, über den Punkt der Erschöpfung, der Übelkeit hinaus, stürzte hinter ihm her, erlaubte mir nicht, stehen zu bleiben. Lange bevor ich ihn erreichte, lange bevor ich auch nur wusste, dass ich ihn einholen würde, fühlte ich mich, als wäre ich nicht mehr in mir selbst. Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll. Ich konnte mich nicht mehr spüren. Das Gefühl des Lebens war aus mir gewichen, und an seiner Stelle fühlte ich eine wunderbare Euphorie, ein süßes Gift, das durch mein Blut schoss, den unleugbaren Geruch des Nichts. Dies ist der Augenblick meines Todes, sagte ich mir, jetzt sterbe ich. Eine Sekunde später hatte ich Stillman eingeholt und packte ihn von hinten. Wir stürzten auf das Pflaster und stöhnten beide auf. Ich hatte meine ganze Kraft verbraucht und war zu atemlos, um mich zu verteidigen, zu erschöpft, um zu kämpfen. Keiner sagte ein Wort. Einige Sekunden lang rangen wir auf dem Gehsteig, aber dann gelang es ihm, sich aus meiner Umklammerung zu befreien. Danach konnte ich nichts mehr tun. Er begann auf mich einzuschlagen, trat mich mit den Schuhspitzen, bearbeitete meinen ganzen Körper mit den Fäusten. Ich erinnere mich, dass ich mein Gesicht mit den Händen zu schützen versuchte. Ich erinnere mich an den Schmerz, wie sehr er mich überwältigte und wie verzweifelt ich mir wünschte, ihn nicht mehr zu fühlen. Aber es kann nicht sehr lange gedauert haben, denn an mehr kann ich mich nicht erinnern. Als Stillman mit mir fertig war, hatte ich das Bewusstsein verloren. Ich erinnere mich, dass ich auf dem Gehsteig wieder zu mir kam und mich wunderte, dass es noch Nacht war. Aber das ist auch alles. Sonst weiß ich nichts mehr.
    Die nächsten drei Tage rührte ich mich nicht aus meinem Hotelzimmer. Was mich schockierte, war nicht so sehr, dass ich Schmerzen hatte, sondern dass sie nicht stark genug waren, mich zu töten. Ich erkannte das am zweiten oder dritten Tag. Als ich da auf dem Bett lag und die Stäbe der geschlossenen Jalousien betrachtete, begriff ich, dass ich überlebt hatte. Es fühlte sich seltsam an, am Leben zu sein, beinahe unbegreiflich. Einer meiner Finger war gebrochen; beide Schläfen bluteten; es schmerzte, nur zu atmen. Aber das war irgendwie nebensächlich. Ich lebte, und je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger verstand ich. Es schien nicht möglich zu sein, dass ich verschont geblieben war.
    Noch am selben Abend telegraphierte ich Sophie, dass ich nach Hause kommen würde.

Neuntes Kapitel
    I ch bin nun beinahe am Ende angelangt. Eine Geschichte bleibt noch übrig, aber die geschah erst später, erst als drei weitere Jahre vergangen waren. In der Zwischenzeit gab es viele Schwierigkeiten, viele Dramen, aber ich glaube nicht, dass sie zu dem gehören, was ich zu erzählen versuche. Nach meiner Rückkehr nach New York lebten Sophie und ich beinahe ein Jahr lang getrennt. Sie hatte mich aufgegeben, und es folgten Monate der Verwirrung, bis ich sie endlich zurückgewann. Von heute
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