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Die neuen Leiden des jungen W

Die neuen Leiden des jungen W

Titel: Die neuen Leiden des jungen W
Autoren: Urlich Plenzdorf
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wurde. Wahrscheinlich nicht mal er selbst.«

    So fand ich dich immer am besten, Charlie, wenn du so in Fahrt warst. Aber daß jeder gleich gesehen hat, daß ich nicht malen konnte, ist trotzdem nicht ganz korrekt. Ich meine, er hat es vielleicht gesehen, aber ich hatte es hervorragend drauf, so zu tun, als wenn ich könnte. Das ist überhaupt eine der schärfsten Sachen, Leute. Es kommt nicht so drauf an, daß man etwas kann, man muß es draufhaben, so zu tun. Dann läuft es. Jedenfalls bei Malerei und Kunst und diesem Zeug. Eine Zange ist gut, wenn sie kneift. Aber ein Bild oder was? Kein Aas weiß doch wirklich, ob eins gut ist oder nicht.

    »Das fing gleich am ersten Tag an. Unser Kindergarten hatte in der Laubenkolonie einen Auslauf, wie wir sagen, mit Buddelkasten, Schaukel und Wippe. Im Sommer waren wir da den ganzen Tag draußen, wenn’s ging. Jetzt ist da alles aufgerissen. Die Kinder stürzten sich immer förmlich in den Buddelkasten und auf das Klettergerüst in die Büsche. Die gehörten zwar zum Nachbargrundstück, aber das gehörte praktisch uns. Der Zaun stand lange nicht mehr, und wir hatten da lange keinen Menschen mehr gesehen. Die ganze Kolonie war ja auf Abriß. Plötzlich sah ich da einen Menschen aus der Laube kommen, einen Kerl, ungekämmt und völlig vergammelt. Ich rief die Kinder sofort zu mir.«

    Das war ich. Leute, war ich vertrieft. Ich war ganz hervorragend vertrieft. Ich sah nichts. Ich triefte auf mein Plumpsklo und von da zu der Pumpe. Aber ich konnte das Pumpenwasser einfach nicht anfassen. Ich hätte einen Trocknen machen können in jeden See. Aber das Pumpenwasser hätte mich getötet. Ich weiß nicht, ob das einer begreift. Ich war einfach zu früh wach geworden. Charlies Gören hatten mich wachgebrüllt.

    »Das war Edgar?«
    »Das war Edgar. Ich verbot den Kindern sofort, wieder auf das Grundstück zu gehen. Aber wie sie so sind — fünf Minuten später waren sie alle weg. Ich rief sie, und dann sah ich: Sie waren drüben, bei Edgar. Edgar saß hinter seiner Laube mit Malzeug und sie hinter ihm, völlig still.«

    Das stimmt. Ich war zwar nie ein großer Kinderfreund. Ich hatte nichts gegen Kinder, aber ich war nie ein großer Kinderfreund. Sie konnten einen anöden auf die Dauer, jedenfalls mich, oder Männer überhaupt. Oder hat schon mal einer was von einem Kindergärtner gehört? Bloß es stank mich immer fast gar nicht an, wenn einer gleich ein Wüstling oder Sittenstrolch sein sollte, weil er lange Haare hatte, keine Bügelfalten, nicht schon um fünf aufstand und sich nicht gleich mit Pumpenwasser kalt abseifte und nicht wußte, in welcher Lohngruppe er mit fünfzig sein würde. Folglich fischte ich mir mein Malzeug und fläzte mich hinter meine Laube und fing an, mit dem Bleistift allerhand Abstände anzupeilen, wie Maler das angeblich machen. Und fünf Minuten später waren Charlies Gören vollzählig hinter mir versammelt.

    »Was malte er?«
    »Eigentlich nichts. Striche. Die Kinder wollten das auch wissen.
    Edgar sagte: Mal sehn. Vielleicht ’n Baum? Da kam sofort: Wieso vielleicht? Weißt du denn nicht, was du malst?
    Und Edgar: Es kommt ganz drauf an, was heute morgen hier so drin ist. Kann man’s wissen? Ein Maler muß sich erst locker malen, sonst wird der Baum zu steif, den er gerade malen will.
    Sie amüsierten sich. Edgar konnte mit Kindern umgehen, aber zeichnen konnte er nicht, das sah ich sofort. Ich interessiere mich ein bißchen dafür.«

    Stop mal, Charlie! Sie amüsierten sich, aber dieser Witz mit dem Baum war von dir. Ich dachte noch: So ist es immer. Einer amüsiert sich, und dann kommen diese Kindergärtnerinnen und geben eine ernste Erklärung. Dann drehte ich mich um und sah dich an. Ich dachte, mich streift ein Bus. Ich hatte dich unterschätzt. Da war glatt Ironie dabei! — Ich glaube, in dem Moment hat das Ganze angefangen, dieses Tauziehen oder was es war. Jeder wollte den anderen über den Strich ziehen. Charlie wollte mir beweisen, daß ich kein Stück malen konnte, sondern daß ich bloß ein großes Kind war, nicht so leben konnte und daß mir folglich geholfen werden mußte. Und ich wollte ihr das Gegenteil beweisen. Daß ich ein verkanntes Genie war, daß ich sehr gut so leben konnte, daß mir keiner zu helfen brauchte, und vor allem, daß ich alles andere als ein Kind war. Außerdem wollte ich sie von Anfang an haben. Rumkriegen sowieso, aber auch haben. Ich weiß nicht, ob mich einer versteht, Leute.

    »Sie meinen, er konnte
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