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Die Nacht der Wölfin

Die Nacht der Wölfin

Titel: Die Nacht der Wölfin
Autoren: Kelley Armstrong
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Und da wusste ich, dass ich aufhören musste, dass ich mich wieder unter Kontrolle bekommen und mir eingestehen musste, dass Clay sich gut erholte und sich auch dann weiterhin gut – wenn nicht besser – erholen würde, wenn wir ihn nicht ununterbrochen beobachteten. Wenn ich es nicht tat, würde ich mich zu Grunde richten, und Jeremy würde es mir ohne ein Wort des Protests nachtun.
    »Fühlst du dich besser?«, fragte er, ohne den Kopf zu drehen.
    »Viel.«
    Er griff nach hinten, als ich näher trat, nahm meine Hand und drückte sie. »Er wird bald aufwachen. Sein Magen knurrt.«
    »Gott verhüte, dass er sein Abendessen versäumt.«
    »Da wir gerade dabei sind, wir gehen heute Abend aus. Du und ich. Irgendwohin, wofür Anzug und Krawatte und eine Rasur erforderlich sind – jedenfalls was mich angeht. Antonio kommt mit Nick rüber. Sie können sich um Clay kümmern.«
    »Das ist nicht n…«
    »Es ist sogar sehr nötig. Du musst hier rauskommen, an etwas anderes denken. Clay braucht uns nicht. Wir nehmen dein Handy mit, nur für den Fall, dass irgendwas passiert.«
    Als ich nickte und mich auf den Stuhl neben ihn setzte, ging mir die Lösung zu Clays Rätsel so plötzlich auf, dass ich keuchte. Und dann hätte ich mich vor den Kopf schlagen können, weil ich es nicht schon viel früher gesehen hatte. Warum hatte ich Philip gewählt? Die Antwort hatte direkt vor meiner Nase gelegen, die ganze Zeit, seit ich nach Stonehaven zurückgekehrt war. An wen hatte er mich erinnert? An Jeremy natürlich.
    Zu meiner eigenen Verteidigung muss ich sagen, dass Jeremy und Philip zumindest äußerlich nicht viel gemeinsam hatten. Sie sahen sich in keiner Weise ähnlich. Ihre Gestik war grundverschieden. Sie handelten nicht einmal auf die gleiche Art. Philip besaß weder Jeremys emotionale Kontrolle noch seine Autorität oder seine ruhige Reserviertheit. Aber das waren auch nicht die Eigenschaften, die ich an Jeremy am meisten bewunderte. Was ich in Philip gesehen hatte, war ein blasseres Abbild dessen, was ich an Jeremy schätzte, seine endlose Geduld, seine Rücksicht, seine angeborene Güte. Und warum hatte ich mich unbewusst zu jemandem hingezogen gefühlt, der mich an Jeremy erinnerte? Weil Jeremy meinen kleinmädchenhaften Träumen von einem Märchenprinzen entgegenkam, von jemandem, der mir Blumen schenkte und sich um mich kümmerte, ganz gleich, was für Katastrophen ich anrichtete. Das Problem mit diesem Wunschtraum war, dass ich für Jeremy keinerlei romantische Gefühle empfand. Ich liebte ihn als Freund, Anführer und Vaterfigur. Das war alles. Und als ich eine menschliche Version meines Ideals gefunden hatte, hatte ich zugleich einen Mann gefunden, den ich mühelos lieben konnte, aber niemals mit der Leidenschaft, die ich für einen Geliebten empfunden hätte.
    Fühlte ich mich jetzt besser? Nicht die Spur. Ich konnte jetzt zwar meine Unfähigkeit entschuldigen, mich in Philip zu verlieben, hätte aber gern hinzugefügt, dass es an irgendeinem Problem mit Philip selbst lag, an irgendetwas, das ihm fehlte. Und die Wahrheit war, dass der Fehler ganz allein bei mir lag. Ich war es, die einen Fehler gemacht hatte, und der gute, anständige Philip musste jetzt dafür leiden.
    Nachdem ich meine Rückkehr nach Toronto fünf Wochen lang hinausgezögert hatte, entschied ich mich schließlich, es zu tun. Clay machte einen Mittagsschlaf. Ich lag im Halbschlaf neben ihm, als mir aufging, dass ich jetzt gleich gehen musste, bevor ich es mir wieder anders überlegte. Ich stand auf und kritzelte eine Nachricht für Clay auf einen Zettel. Jeremy war hinter dem Haus damit beschäftigt, die Gartenmauer zu reparieren. Ich sagte ihm nicht, dass ich aufbrach. Ich hatte Angst, er würde wollen, dass ich zuerst zu Abend aß oder wartete, bis er mich zum Flughafen fahren konnte, oder es würde sich sonst eine Verzögerung ergeben, die meinen Entschluss wieder ins Wanken bringen würde.
    Ich rief auch nicht an, um Philip mitzuteilen, dass ich kam. Seine Stimme zu hören gehörte ebenfalls zu den Dingen, die mich vielleicht zu einer Sinnesänderung hätten veranlassen können. Ich ging geradewegs zu meiner alten Wohnung und schloss die Tür auf. Er war nicht da. Ich setzte mich aufs Sofa und wartete. Eine Stunde später kam er zurück, keuchend von einem Dauerlauf in der Hitze der ersten Julihälfte. Er kam rasch zur Tür herein, sah mich und blieb abrupt stehen.
    »Hi«, sagte ich und brachte dabei ein mattes Lächeln zu Stande. Und dann sah
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