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Die Mutter des Erfolgs - Die Mutter des Erfolgs

Titel: Die Mutter des Erfolgs - Die Mutter des Erfolgs
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der Stimmstock, das Rosshaar des Bogens, subtil, erlesen und prekär.
    Außerdem symbolisierte sie für mich Respekt vor Hierarchien, vor Maßstäben, vor Können. Vor jenen, die es besser wissen und ihr Wissen weitergeben. Vor jenen, die besser spielen und inspirieren können. Und vor Eltern.
    Die Geige stand auch für Geschichte. Die Höhepunkte der klassischen abendländischen Musik haben die Chinesen nie erreicht – es gibt kein chinesisches Äquivalent für Beethovens Neunte –, aber anspruchsvolle traditionelle Musik ist in der chinesischen Kultur tief verwurzelt. Das siebensaitige Qin, das häufig mit Konfuzius in Verbindung gebracht wird, existiert seit mindestens zweieinhalbtausend Jahren, und die großen Dichter der Tang-Dynastie, die es als Instrument der Weisen verehrten, haben es unsterblich gemacht.
    Ganz besonders aber symbolisierte die Geige Kontrolle. Über die Degeneration. Über die Position innerhalb der Geschwisterordnung. Über das eigene Schicksal. Über die eigenen Kinder. Warum sollten die Enkel von Einwanderern nur noch Gitarre oder Schlagzeug spielen können? Warum solltenZweitgeborene unbedingt weniger folgsam, weniger erfolgreich in der Schule und stattdessen «geselliger» sein als die Ältesten? Kurz und gut, die Geige symbolisierte den Erfolg des chinesischen Erziehungsmodells.
    Für Lulu verkörperte sie Unterdrückung.
    Und während ich langsam über den Roten Platz zurückging, wurde mir bewusst, dass die Geige inzwischen auch für mich Unterdrückung bedeutete. Allein der Gedanke an Lulus Geigenkasten, der zu Hause neben der Eingangstür stand – in letzter Minute hatten wir beschlossen, ihn zurückzulassen –, beschwor die Erinnerung an die unendlich vielen Stunden, buchstäblich Jahre der Mühen, der immer grausameren Kämpfe, des immer größeren Elends herauf, die wir auf uns genommen hatten. Wofür? Noch etwas wurde mir bewusst: dass ich mich bis ins Herz hinein vor der Zukunft fürchtete.
    Dann kam mir der Gedanke, dass es genau diese Überlegungen sein müssen, die auch westliche Eltern bewegen. Sie werden der Grund sein, weshalb sie so oft zulassen, dass ihre Kinder schwierige Musikinstrumente wieder aufgeben. Wozu sich und das eigene Kind quälen? Zu welchem Zweck? Was bringt es, ein Kind zu etwas zu zwingen, das es nicht mag – ja hasst? Mir war klar, dass ich mich als chinesische Mutter dieser Denkweise niemals anschließen konnte.
    Ich kehrte zu meiner Familie im GUM-Café zurück. Die Kellner und anderen Gäste wandten den Blick ab.
    «Lulu», sagte ich. «Du hast gewonnen. Es ist vorbei. Wir geben die Geige auf.»

33     Nach Westen
     
     
    Mein Dad Anfang der Siebziger
     
    Es war kein Bluff. Zwar hatte ich bei Lulu immer auf volles Risiko gesetzt, aber diesmal war es mir ernst. Noch heute weiß ich nicht genau, weshalb. Vielleicht weil ich mir, auch wenn ich mit ihren Entscheidungen ganz und gar nicht einverstanden war, zum ersten Mal erlaubte, Lulus unbeirrbare Kraft als das zu bewundern, was sie war. Oder vielleicht lag es an Katrin. Dass wir miterlebten, wie sie kämpfte, und sahen, was in diesen verzweifelten Monaten wichtig für sie wurde, hatte für uns alle die Perspektive verändert.
    Es könnte auch meine Mutter gewesen sein. Für mich war sie immer der Inbegriff der chinesischen Mutter. Als ich klein war, konnte ich ihr nichts je gut genug machen. («Du sagst, du bist Platz eins, aber in Wirklichkeit bist du nur punktgleich mit jemandem und teilst deinen Platz, richtig?») Cindy, meine Schwester mit Down-Syndrom, hat zweiSpecial-Olympics-Goldmedaillen gewonnen, und meine Mutter übte mit ihr drei Stunden täglich Klavier, bis der Lehrer sie behutsam darauf aufmerksam machte, dass sie eine Grenze erreicht hatten. Selbst nachdem ich Professorin geworden war und sie zur einen oder anderen öffentlichen Vorlesung eingeladen hatte, kritisierte sie mich nachher schonungslos, während alle anderen mir gratulierten. («Du wirst immer zu aufgeregt, und dann redest du zu schnell. Versuch doch, ruhig zu bleiben, dann wirst du besser.») Aber sogar meine Mutter hatte mich schon lange gewarnt: Mit Lulu läuft das nicht so, schalte lieber einen Gang herunter, hatte sie immer wieder gesagt. «Jedes Kind ist anders. Du musst dich anpassen, Amy», und düster hatte sie hinzugefügt: «Schau dir an, wie es deinem Vater ergangen ist.»
    Also – mein Vater. Es ist wohl an der Zeit für ein Geständnis. Ich hatte Jed, mir und allen anderen immer versichert, der
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