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Die Morgenlandfahrt

Die Morgenlandfahrt

Titel: Die Morgenlandfahrt
Autoren: Hermann Hesse
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Gegenwart zu vergessen, denn noch mehrmals unterdrückte er Leo zuliebe den grol-lenden Ton von Abwehr und Feindschaft in seiner Kehle.
    »Verzeihen Sie mir«, fing ich wieder an, »ich hänge mich da an Sie und nehme Ihre Zeit in Anspruch, und Sie wollen natürlich nach Hause und ins Bett.«
    »Oh, warum denn?« lächelte er, »ich habe nichts dagegen, eine Nacht hindurch so zu schlendern, es fehlt mir weder an Zeit dazu noch an Lust, falls es Ihnen nicht zuviel wird.«
    Er hatte es so hingesagt, sehr freundlich und ge-wiß ohne jede Nebenabsicht. Aber kaum waren die Worte gefallen, so spürte ich plötzlich im Kopf und tief in allen Gelenken, wie furchtbar müde ich war, wie schwer mir jeder Schritt dieser nutzlosen und für mich so beschämenden Nacht-wanderung fiel.
    »Es ist wahr«, sagte ich geschlagen, »ich bin sehr müde, erst jetzt merke ich es. Es hat ja auch keinen Sinn, so des Nachts im Regen herumzulaufen und ändern Leuten zur Last zu fallen.«
    »Wie Sie meinen«, sagte er höflich.
    »Ach, Herr Leo, damals auf der Bundesfahrt ins Morgenland haben Sie nicht so mit mir gesprochen. Haben Sie denn wirklich das alles vergessen? ... Nun, es nützt nichts, lassen Sie sich nicht weiter aufhalten. Gute Nacht.«
    Schnell war er in der finstern Nacht verschwunden, ich blieb allein zurück, dumm, vor den Kopf geschlagen, ich hatte das Spiel verloren. Er kannte mich nicht, wollte mich nicht kennen, er machte sich über mich lustig.
    Ich ging den Weg zurück, hinterm Gitterzaun bellte wütend der Hund Necker. Mitten in der feuchten Wärme der Sommernacht fror ich vor Müdigkeit, Trauer und Alleinsein.
    Auch in früheren Jahren schon hatte ich ähnliche Stunden ausgekostet. Damals war jede solche Verzweiflung mir so erschienen, als sei ich, verirrter Pilger, am äußersten Rande der Welt ange-langt, und es sei jetzt nichts mehr zu tun, als der letzten Sehnsucht zu folgen: sich vom Rande der Welt ins Leere fallen zu lassen, in den Tod. Mit der Zeit war die Verzweiflung zwar oftmals wie -
    dergekehrt, der heftige Drang zum Selbstmord aber hatte sich verwandelt und war beinahe erloschen. Es war mir der »Tod« kein Nichts mehr, keine Leere, keine Negation. Es war auch vieles andre anders geworden. Die Stunden der Verzweiflung nahm ich jetzt so, wie man starke kör-perliche Schmerzen nimmt: man erduldet sie, kla -
    gend oder trotzig, man fühlt, wie sie schwellen und zunehmen, und spürt eine bald wütende, bald spöttische Neugierde, wie weit das noch gehen, wie hoch der Schmerz sich noch steigern könne.
    Aller Verdruß meines enttäuschten Lebens, das seit meiner einsamen Rückkehr von der mißlun-genen Morgenlandfahrt immer wertloser und
    mutloser geworden war, aller Unglaube an mich selber und meine Fähigkeiten, alle neidisch-reuige Sehnsucht nach den guten und großen Zeiten, die ich einst erle bt hatte, wuchsen als Schmerz in mir an, wuchsen hoch wie ein Baum, wie ein Berg, dehnten mich, und bezogen sich alle auf meine der-zeitige Aufgabe, auf meine begonnene Geschichte der Morgenlandfahrt und des Bundes. Es schien mir jetzt nicht mehr die Leistung selbst wünschens-wert oder wertvoll. Wertvoll schien mir nur noch die eine Hoffnung: durch meine Arbeit, durch meinen Dienst am Gedächtnis jener hohen Zeit mich selbst etwas zu reinigen und zu erlösen, mich wieder in Verbindung mit dem Bund und dem
    Erlebten zu bringen.
    Zu Hause machte ich Licht, setzte mich in den nassen Kleidern, den Hut auf dem Kopf, an den Schreibtisch und schrieb einen Brief, schrieb zehn, zwölf, zwanzig Seiten der Klage, der Reue, der flehentlichen Bitte an Leo. Ich schilderte ihm meine Not, ich beschwor in ihm die Bilder des gemeinsam Erlebten, der gemeinsamen Freunde von einst, ich klagte ihm die unendlichen, teuflischen Schwierigkeiten, an welchen mein edles Unternehmen scheiterte. Verflogen war die Müdigkeit der Stunde, glühend saß ich und schrieb. Trotz allen Schwierigkeiten, schrieb ich, würde ich lieber das Schlimmste erdulden, als ein einziges von den Bundesgeheimnissen verraten. Und ich würde
    nicht nachlassen, trotz allem, mein Werk zu voll-enden, zum Gedächtnis der Morgenlandfahrt,
    zur Verherrlichung des Bundes. Wie im Fieber malte ich Seite um Seite voll eiliger Buchstaben, ohne Besinnung, ohne Glauben, die Klagen, Anklagen, Selbstanklagen stürzten aus mir heraus wie Wasser aus einem brechenden Krug, ohne
    Hoffnung auf Antwort, nur aus Drang nach Ent-ladung. Noch in der Nacht brachte ich den kon-fusen, dicken Brief zum
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