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Die Maenner vom Meer - Roman

Titel: Die Maenner vom Meer - Roman
Autoren: Konrad Hansen
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allein. Wen hast du bei dir?«
    »Vigdis, meine Tochter.«
    »Ruf sie herein«, sagte Gris.
    Vigdis kam auf allen vieren herbeigekrochen und setzte sich neben Björn. Er legte etwas Reisig auf das Feuer, damit der Alte sehen konnte, wie schön sie war.
    Gris der Weise strich sich das Haar aus der Stirn und richtete sein Auge auf sie. Er musterte sie lange, und Björn fiel ein, daß dieses Auge alles war, was er jemals von Gris' Gesicht gesehen hatte. Was mochte sich noch hinter dem dichten Haarschleier verbergen?
    Endlich brach der Alte sein Schweigen und sagte: »Ihr Anblick tut mir wohl; nach langer Zeit fühle ich wieder, daß mein Herz noch schlägt. Doch es ist nicht ihre Schönheit allein, die mich erfreut. Ich sehe eine Frau vor mir, von der man noch viel hören wird. Eines Tages wird man sie die ›Meerkönigin‹ nennen.« Dies sagte Gris der Weise Vigdis voraus, und seine Prophezeiung sollte sich erfüllen. Doch davon erzählt eine andere Geschichte.
    Gris schenkte ihr seinen Stock, der die Form einer Schlange hatte und mit rätselhaften Figuren verziert war. »Gib gut auf ihn acht, er könnte dir nützlicher sein als ein Schwert«, sagte er. Dann bat er sie, ihn mit Björn allein zu lassen.
    »Ich habe nur ein Auge, aber ich sehe damit mehr, als andere mit zweien«, fuhr Gris nach einer Weile fort. »Wenn du sie auch deine Tochter nennst, nie und nimmer entsprang sie deinem Glied, Björn Bosison. Doch sei bedankt, daß du einen Sterbenden mit ihrem Anblick erfreutest.«
    »Ich hatte nicht gehofft, dich noch lebend anzutreffen«, sagte Björn.
    »Lebe ich denn?« fragte der Alte. »Manchmal ist mir, als blickte ich mit eines anderen Auge, als redete ich durch eines anderen Mund, während ich selbst schon zu Erde geworden bin. Wer aber lieh einem Haufen Erde Auge und Mund, Björn Bosison?«
    »Ich kenne keinen außer dir, der darauf eine Antwort wüßte.«
    »Ein Gott vielleicht? Einer von den müden alten Göttern, deren Tage gezählt sind? Will er, daß ich für ihn sehe, daß ich für ihn rede?« Dann bauschte sich der Haarschleier vor seinem Gesicht, und Björn hörte ihn leise singen, und in den Gesang mischten sich Worte, uralte Worte:
     
    Schwarz wird die Sonne, die Erde
    sinkt ins Meer, vom Himmel
    stürzen die heiteren Sterne.
     
    So sprach Gris der Weise, und es schien, als gäben ihm die Strophen neue Kräfte, denn seine Stimme wurde lauter und wohltönender, und sein bemooster Körper geriet in immer heftigere Bewegung, als er nun den großen Gesang vom Weltende anstimmte:
     
    Brüder kämpfen
    und bringen sich Tod,
    Brudersöhne
    brechen das Sippengesetz;
    arg ist die Welt,
    Ehbruch furchtbar;
    Schwertzeit, Beilzeit,
    Schilde bersten,
    Windzeit, Wolfzeit,
    bis die Welt zergeht.
     
    Dann versank er in Schweigen, und Björn dachte über den geheimnisvollen Mann nach, der älter sein mußte als jeder Mensch. Der von Dingen wußte, die dem menschlichen Verstand verschlossenbleiben. Der nur ein Auge hatte und einen Raben auf der Schulter trug. Konnte es sein, daß Gris selbst einer der alten Götter war, ein abtrünniger Gott? War er von Asgard geflohen, um der Ragnarök zu entgehen, die er so wortgewaltig auszumalen verstand? Doch da riß Gris ihn aus seinen Gedanken.
    »Was ist aus dem Mann geworden, der mich seinen Vater nannte?« fragte er.
    »Er ist tot«, antwortete Björn und erzählte, wie Thormod ums Leben gekommen war.
    »Er war nicht mein Sohn«, sagte Gris der Weise. »Ich habe nie ein Weib geschwängert. Ich will nicht in anderer Gestalt fortleben als der eines Wurms, einer Spinne, eines Pilzes. Aber nun erzähl, wie es dir ergangen ist in der langen Zeit, die ich sterbend unter diesem Baumstumpf verbrachte.«
    So kam es, daß Björn eine ganze Nacht lang von seinen Abenteuern berichtete, denn der Alte schien, ungeachtet seines körperlichen Verfalls, von unersättlicher Wißbegier besessen. Mit Fragen, beifälligen Äußerungen und Gebärden, aber auch solchen des Unmuts oder des Zorns entlockte er Björn immer neue Geschichten, und dieser sah sich nicht ungern gedrängt, seinen reichen Schatz an Erlebnissen vor Gris dem Weisen auszubreiten. Als er schließlich erschöpft verstummte, graute schon der Morgen.
    »Du mußt jetzt gehen«, sagte der Alte. »Wir werden uns nicht wiedersehen, aber du sollst wissen, daß ich dich von allen Menschen am besten leiden konnte.«
    »Bist du ein Gott, Gris?«
    Er hörte den Alten leise kichern.
    »Zeig mir dein Gesicht«, bat Björn.
    »Was davon
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