Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Maechtigen

Titel: Die Maechtigen
Autoren: Brad Meltzer
Vom Netzwerk:
nicht und spüre, wie ich erröte.
    Clementine zieht den Ärmel ihres schwarzen Pullovers hoch. Mir fällt die weiße Narbe an ihrem Ellenbogen auf. Sie ist nicht frisch, rötlich, sondern weißer als ihre Haut. Also muss sie schon alt sein. Aber ihre Größe und wie sie in mehrere Richtungen verläuft … Was auch immer sie hinterlassen hat, es muss sehr schmerzhaft gewesen sein.
    »Die meisten Männer starren auf meine Möpse.« Sie lacht, als sie meinen Blick bemerkt.
    »Ich … ich wollte nicht …«
    »Jesus, das wollte ich nicht. Ich habe dich in Verlegenheit gebracht, stimmt’s?«
    »Nein, ach was, schon gut.«
    Sie lacht wieder. »Du weißt, dass du ein schlechter Lügner bist?«
    »Ja, weiß ich.« Ich starre immer noch auf ihre Narbe.
    »Und dir ist auch klar, dass du immer noch meine Narbe anglotzt?«
    »Ich weiß. Ich kann nichts dagegen tun. Wenn wir nicht in diesem staubigen Gemäuer wären, sondern an einem Strand, würde ich mich jetzt eingraben.«
    »Du solltest dich einfach an meine Möpse halten«, rät sie mir. »Das ist auf jeden Fall ein erfreulicherer Anblick.«
    Instinktiv schaue ich hin, aber genauso schnell zuckt mein Blick zu ihrer Narbe zurück. »Sieht nach einem Hundebiss aus.«
    »Motorradunfall. Meine Schuld. Der Ellbogen hat sich überdehnt, und der Knochen ging durch die Haut.«
    »Das hört sich schrecklich an.«
    »Ist schon zehn Jahre her, Beecher«, meint sie und zuckt die Achseln. Ich vergesse die ganze Welt, als sie mich mit ihrem Blick fixiert und nicht mehr loslässt. Sie sieht mich einfach nur an. »Nach zehn Jahren zählen nur noch die guten Dinge.«
    Bevor ich zustimmen kann, vibriert mein Telefon in der Kitteltasche. So laut, dass wir es beide hören.
    »Sind sie das?«, platzt Clementine heraus.
    Ich schüttele den Kopf. Die Nummer auf dem Display ist die meiner Schwester, die bei meiner Mutter zu Hause in Wisconsin lebt. Aber zu dieser Tageszeit, wenn die Schicht im Supermarkt wechselt, weiß ich, wer wirklich dran ist. Meine Mutter, die ihren täglichen Kontrollanruf tätigt, seit sie von der Sache mit Iris gehört hat. Obwohl ich weiß, dass meine Mutter Iris nie sonderlich gemocht hat, ist sie viel zu gutherzig, als dass sie mir das je gesagt hätte. Das Telefon summt wieder.
    Ich gehe nicht ran. Aber als ich Clementine anschaue, ist meine Zuversicht, all die Sicherheit und Furchtlosigkeit verschwunden. Mir fällt wieder ein, dass sie nicht zu mir ins Archiv gekommen ist, um mir alte Narben zu zeigen oder Muskelpakete vom Secret Service zu bewundern.
    Clementines Mutter ist letztes Jahr gestorben. Aber Clementine hat sich erst vor ein paar Monaten bei ihrem Radiosender krankgemeldet, ist nach Hause gefahren und hat den Schrank ihrer Mutter aufgeräumt. Dort fand sie einen alten Kalender aus ihrem Geburtsjahr, den ihre Mutter aufbewahrt hatte. Natürlich waren am 10. Dezember Herzen eingezeichnet und kleine Ballons am Tage ihrer Geburt, ein kleiner witziger Smiley markierte den Tag, als sie aus dem Krankenhaus kam, aber am interessantesten für Clementine war ein Eintrag vom 18. März. Dort fand sie ein kleines trauriges Gesicht, daneben die Worte: »Nick verpflichtet sich.«
    Endlich hatte sie einen Namen und eine Spur zu ihrem Vater.
    Dank unserer E-Mails hat sie jetzt auch die Hilfe des Nationalarchivs.
    Es kostete mich nur ein Telefonat: zu unserer Filiale im College Park, wo die neueren Unterlagen der Army gelagert werden.
    Vor zehn Minuten eilte Clementine mir noch voraus. Aber als ich mich jetzt der Metalltür vor uns nähere, fällt sie immer weiter zurück. Außerdem ist sie erstaunlich schweigsam.
    Man benimmt sich auf eine bestimmte Art und Weise, wenn man sich beobachtet fühlt. Und völlig anders, wenn keiner einem zusieht, was, wenn wir mal ehrlich sind, das wirkliche Du ist. So sehe ich Clementine im Moment: für eine Sekunde, zwischen zwei Atemzügen, als ich vorangehe und sie sich hinter mir unbeobachtet fühlt. Aber sie irrt sich. Ich sehe sie. Und ich fühle sie.
    Ich fühle ihre Selbstzweifel. Sie ist nicht geerdet. Und mitten in einem Atemzug sacken ihre Schultern zusammen, sie senkt den Blick und atmet langsam aus, damit sie nicht explodiert. Ich spüre diesen kleinen, dunklen Raum voller Angst, den sie nur für sich selbst reserviert hat. Er existiert nur für diese eine Sekunde, aber ich bin sicher, dass ich soeben wenigstens einen Teil der wirklichen Clementine gesehen habe. Keine inszeniert coole Moderatorin eines Jazzsenders. Kein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher