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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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Tanten, die auf der Ile- Saint-Louis wohnte, eingeführt, und dort mußte ich jeden Donnerstag und Sonntag zu Tisch erscheinen. Madame oder Monsieur Lepître, die an diesen Tagen ausgingen, begleiteten mich hin und holten mich abends auf dem Rückweg wieder ab – für mich ein zweifelhaftes Vergnügen! Die Marquise de Listomère war eine sehr formelle große Dame, die niemals auf den Gedanken kam, mir einen Taler zu schenken. Sie war alt wie eine Kathedrale, gemalt wie eine Miniatur, sehr reich gekleidet und lebte in ihrem herrschaftlichen Hause, als ob Ludwig XV. nie gestorben wäre. Sie empfing nur alte Damen, Herren von gutem Adel, eine Gesellschaft von Fossilien, in der ich mir wie in einer Gruft vorkam. Niemand richtete ein Wort an mich, und ich hatte nicht den Mut, jemand anzusprechen. Feindliche oder kalte Blicke beschämten mich, meine Jugend schien allen ein Ärgernis zu sein. Von dieser Gleichgültigkeit erhoffte ich das Gelingen meines Fluchtplanes: ich nahm mir vor, mich eines Tages gleich nach Tisch wegzuschleichen und zu den ›Holzgalerien‹ zu eilen. Wenn meine Tante erst einmal in das Whistspiel vertieft war, gab sie nicht mehr auf mich acht. Jean, ihr Kammerdiener, kümmerte sich wenig um Monsieur Lepître; aber solch ein unseliges Diner zog sich infolge des Alters der Kauwerkzeuge oder der Unvollkommenheit der künstlichen Gebisse furchtbar in die Länge. Endlich, eines Abends zwischen acht und neun Uhr, hatte ich die Treppe erreicht, vor Erregung zitternd, wie Bianca Capello am Tage ihrer Flucht. Aber als der Portier mir die Tür geöffnet hatte, sah ich den Wagen des Monsieur Lepître auf der Straße und ihn selbst, den Edeln, der mit keuchender Stimme nach mir fragte. Dreimal schob sich der Zufall in verhängnisvoller Weise zwischen die Hölle des Palais-Royal und das Paradies meiner Jugend. Am Tage, da ich, zwanzigjährig, mir mit Beschämung meine Unwissenheit eingestand, beschloß ich, allen Gefahren die Stirn zu bieten, um zum Ziel zu kommen. Im Augenblick, da ich Monsieur Lepître entwischte, als er eben in den Wagen stieg – und das war keine Kleinigkeit, denn er war so dick wie Ludwig XVIII. und hatte einen Klumpfuß –, ja, da erschien meine Mutter in der Postkutsche. Ihr Blick bannte mich, ich blieb bewegungslos wie der Vogel vor der Schlange. Durch welchen Zufall ich sie traf? Nichts ist leichter zu erklären. Napoleon wagte die letzten Entscheidungsschläge. Mein Vater, der die Rückkehr der Bourbonen ahnte, kam, um meinen Bruder, der schon im Dienste der kaiserlichen Diplomatie stand, zu warnen. Er hatte Tours mit meiner Mutter verlassen. Meine Mutter hatte es übernommen, mich dorthin zurückzubringen und mich so den Gefahren zu entziehen, die nach dem Dafürhalten aller intelligenten Beobachter die Hauptstadt bedrohten. In wenigen Minuten wurde ich aus Paris entführt, gerade als mir der dortige Aufenthalt verhängnisvoll werden sollte. Die Qualen einer Phantasie, die durch fortwährend zurückgedrängte Begierden überreizt war, die Mühsale eines Lebens, das ständige Entbehrungen verdüsterten, hatten mich gezwungen, im Studium unterzugehen, wie die ihres Geschickes Überdrüssigen sich früher in ein Kloster vergruben. Mir war das Studium zur Leidenschaft geworden; es konnte mir gefährlich werden, denn es schlug mich in Fesseln zu einer Zeit, wo junge Leute dem berauschenden Tatendrang ihrer jungen Kraft freien Lauf lassen sollten.
    Diese leicht hingeworfene Skizze einer Jugend, die Sie zahllose Elegien erraten läßt, war nötig, um den Einfluß meiner ersten Jahre auf mein späteres Leben zu erklären. Durchseucht von so vielen Krankheitskeimen, war ich mit gut zwanzig Jahren noch klein, mager und blaß. Meine Seele, voll von Willenskräften, rang mit einem scheinbar schwächlichen Körper, der aber, nach der Aussage eines alten Arztes von Tours, ein eisernes Temperament umschloß. An Körper ein Kind, an Geist ein Greis, hatte ich so viel gelesen, so viel geforscht, daß ich, theoretisch das Leben in seinen höchsten Höhen kannte, und jetzt erst sollte ich die schwierigen Wirrsale seiner Engpässe und die sandigen Pfade seiner Niederungen kennenlernen. Seltsame Schicksalsfügungen hatten mich in jener reizvollen Entwicklungsphase festgehalten, wo erste Wallungen die Seele aufrühren, wo sie zur Wollust erwacht, wo alles schmackhaft und frisch ist. Ich stand auf der Schwelle zwischen künstlich hingezogener Pubertät und einer Mannbarkeit, die erst spät trieb und
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