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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad
Autoren: Paullina Simons
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zumute. Sie sah schnell weg. »Ihr Eis schmilzt immer noch«, sagte der Soldat. Tatiana errötete und erwiderte hastig: »Oh, diese Eiscreme. Ich habe sowieso keinen Appetit mehr.« Sie stand auf und warf den Rest Eiscreme mit Nachdruck in den Abfalleimer, wobei sie wünschte, sie hätte ein Taschentuch, um ihr beschmutztes Kleid abzuwischen.
    Tatiana konnte nicht sagen, ob der Soldat in ihrem Alter war; er wirkte eher ein wenig älter. Sie errötete wieder und starrte auf den Boden zwischen ihren roten Sandalen und seinen schwarzen Armeestiefeln.
    Ein Bus kam. Der Soldat drehte sich um und ging darauf zu. Tatiana beobachtete ihn. Seine Schritte wären sicher und lang, und irgendwie kam ihr dies alles so vertraut vor, als würde sie ihn schon ewig kennen.
    In wenigen Sekunden würden die Türen des Busses aufgehen, er würde hineinspringen, ihr zum Abschied zuwinken und sie würde ihn nie wiedersehen. Geh nicht!, schrie Tatiana innerlich auf.
    Während sich der Soldat dem Bus näherte, wurde er immer langsamer und schließlich blieb er stehen. In der letzten Sekunde wich er zurück und schüttelte verneinend den Kopf. Der Busfahrer machte eine frustrierte Handbewegung, schloss die Türen und fuhr los.
    Der Soldat kam zurück und setzte sich auf die Bank. Die beiden schwiegen. Wie können wir uns anschweigen?, dachte Tatiana. Wir haben uns doch gerade erst kennen gelernt. Nein, eigentlich haben wir uns noch gar nicht kennen gelernt.
    Nervös blickte sie auf die Straße. Plötzlich kam es ihr so vor, als müsse er hören, wie heftig ihr Herz klopfte. Das Geräusch war so laut, dass es sogar die Krähen aus den Bäumen hinter ihr aufgescheucht hatte. Mit lautem Flattern waren sie aufgeflogen. Jetzt sollte ihr Bus kommen. Jetzt sofort. Natürlich hatte sie schon früher gut aussehende Soldaten gesehen. Ein- oder zweimal letzten Sommer hatte sie sogar einige gut aussehende Soldaten kennen gelernt. Einer, dessen Namen sie schon wieder vergessen hatte, hatte ihr ein Eis gekauft. Es lag also nicht an der Uniform des jungen Mannes und auch nicht an seinem Aussehen. Es musste daran liegen, wie er sie von der anderen Straßenseite aus angestarrt hatte, über zehn Meter Asphalt, einen Bus und die Oberleitung der Straßenbahn hinweg.
    Er zog ein Päckchen Zigaretten aus seiner Uniform. »Möchtest du eine?«
    »Oh, nein, nein«, erwiderte Tatiana. »Ich rauche nicht.« Der Soldat steckte die Zigaretten wieder ein. »Ich kenne keinen, der nicht raucht«, sagte er.
    Sie und ihr Großvater waren die Einzigen in der Familie, die nicht rauchten, das wusste Tatiana. Sie konnte nicht die ganze Zeit schweigen, das war wirklich peinlich. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber alles, was ihr einfiel, kam ihr so dumm vor, dass sie ihn einfach wieder schloss und im Stillen darum betete, dass der Bus endlich kommen möge. Aber das tat er nicht.
    Schließlich ergriff der Soldat wieder das Wort. »Wartest du auf den Bus 22?«
    »Ja«, erwiderte Tatiana mit blecherner Stimme. »Ahm, nein.« Sie sah einen Bus mit drei Ziffern näher kommen. Es war die Nummer 136.
    »Ich nehme diesen«, erklärte sie ohne nachzudenken und sprang rasch auf.
    »Einhundertsechsunddreißig?«, murmelte er hinter ihr. Tatiana nahm fünf Kopeken aus der Tasche und stieg ein. Nachdem sie bezahlt hatte, ging sie nach hinten durch und setzte sich hin, nur um zu sehen, dass auch der Soldat eingestiegen war und nach hinten kam.
    Er setzte sich auf der gegenüberliegenden Seite eine Reihe hinter sie.
    Tatiana rutschte zum Fenster hinüber und versuchte, nicht an ihn zu denken. Wohin wollte sie mit diesem Bus eigentlich fahren? Ach ja, das war ja der Bus, der zum Polustrovskij Prospekt fuhr, zu Marina. Dort würde sie aussteigen und bei Marina klingeln.
    Aus den Augenwinkeln konnte Tatiana den Soldaten sehen. Wo mochte er wohl hinfahren?
    Der Bus passierte den Taurischen Garten und bog in den Litejnyj Prospekt ein.
    Tatiana strich ihr Kleid glatt und fuhr die Umrisse der gestickten Rosen mit den Fingern nach. Bei jedem Halt hoffte sie, dass der Soldat noch nicht aussteigen würde. Nicht hier, dachte sie, nicht hier. Und hier auch nicht. Er durfte einfach nicht vor ihr aussteigen. Und der Soldat stieg auch nicht aus. Ganz ruhig saß er da und blickte aus dem Fenster. Gelegentlich drehte er den Kopf, und dann merkte Tatiana, dass er sie ansah. Der Bus fuhr über die Litejnyj-Brücke und weiter durch die Stadt. Die wenigen Geschäfte, die Tatiana sehen konnte, waren
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