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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad
Autoren: Paullina Simons
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doppelte Summe gegeben. Voller Vorfreude auf das Vergnügen lief Tatiana auf ihren hohen Absätzen über die Straße zu der Bank unter den Bäumen. Dort würde sie ihr Eis in Ruhe essen können, während sie auf den Bus wartete, der sie zu Elisey bringen sollte.
    Sie entfernte das weiße Einwickelpapier, warf es in den Abfalleimer neben der Bank, roch an dem Eis und leckte ganz vorsichtig mit der Zunge an der süßen, cremigen, kalten Karamellmasse. Glücklich lächelnd schloss Tatiana die Augen und wartete darauf, dass das Eis in ihrem Mund schmolz. Zu gut, dachte sie. Einfach zu gut.
    Der Wind zerzauste ihr die Haare und sie hielt sie mit einer Hand zurück, während ihre Zunge immer wieder um die glatte Kugel fuhr. Sie schlug die Beine übereinander, legte den Kopf zurück, leckte an ihrem Eis und summte dabei das Lied, das gerade jeder sang: »Eines Tages treffen wir uns in Lvov, mein Liebster und ich.«
    In dem Augenblick gab es für sie keinen Krieg, sondern nur einen prachtvollen Junisonntag in Leningrad. Als Tatiana aufblickte, sah sie, dass ein Soldat sie von der anderen Straßenseite aus anstarrte.
    Einen Soldaten zu sehen war in einer Garnisonsstadt wie Leningrad nicht weiter bemerkenswert. Soldaten waren im Straßenbild so normal wie alte Damen mit Einkaufstaschen, Warteschlangen oder Bierlokale. Normalerweise hätte Tatiana auch gar nicht auf ihn geachtet, aber der Soldat blickte sie mit einem Gesichtsausdruck an, den Tatiana noch nie zuvor gesehen hatte. Sie hörte sogar auf, an ihrem Eis zu lecken. Ihre Straßenseite lag bereits im Schatten, aber er stand noch im hellen Nachmittagslicht. Einen Moment lang starrte Tatiana zurück und etwas rührte sich in ihr. Es war kaum wahrnehmbar und doch hatte sie das Gefühl, als ob ihr Herz plötzlich schneller schlüge und das Blut rascher durch ihre Adern flösse. Sie spürte, wie ihr der Atem stockte.
    Der Bus kam und versperrte Tatiana die Sicht. Fast hatte sie aufgeschrien und wäre aufgestanden, jedoch nicht, um in den Bus einzusteigen, sondern um über die Straße zu laufen und weiter den Soldaten sehen zu können. Die Bustüren öffneten sich und der Fahrer sah Tatiana erwartungsvoll an. Sie hätte ihn beinahe angefahren, er solle ihr aus dem Weg gehen. »Steigst du jetzt ein, junge Dame? Ich kann hier nicht ewig warten!«
    Einsteigen? »Nein, ich will nicht einsteigen.« »Warum zum Teufel sitzt du dann hier?«, brummelte der Fahrer und schloss die Türen wieder.
    Tatiana wich zurück und sah, wie der Soldat um den Bus herumrannte. Er blieb stehen. Sie blieb stehen.
    Die Bustüren gingen wieder auf. »Wollen Sie mitfahren?«, fragte der Fahrer.
    Der Soldat blickte Tatiana an, dann den Busfahrer.
    »Um Lenins und Stalins willen!«, brüllte der Fahrer und schloss zum zweiten Mal die Türen.
    Tatiana stand wieder vor der Bank. Sie wich noch weiter zurück und setzte sich rasch.
    Achselzuckend sagte der Soldat: »Ich dachte, es sei mein Bus.« »Ja, ich auch«, krächzte sie. »Dein Eis schmilzt«, stellte er fest.
    Tatsächlich tropfte das Eis durch die Waffel auf ihr Kleid. »Oh nein!«, sagte Tatiana und wischte darüber, wodurch sie es noch mehr verschmierte. »Na toll«, murmelte sie. Sie bemerkte, dass ihre Hand zitterte.
    »Wartest du schon lange hier?«, fragte der Soldat. Seine Stimme war voll und tief und erinnerte sie an etwas ... Sie konnte jedoch nicht sagen, woran. Er ist jedenfalls nicht von hier, dachte sie mit gesenktem Blick.
    »Noch nicht sehr lange«, erwiderte sie leise. Mit angehaltenem Atem hob sie den Kopf, um ihn besser betrachten zu können. Er war groß.
    Er trug eine Ausgehuniform und vorne auf der Mütze prangte ein emaillierter roter Stern. Seine breiten Schulterklappen waren aus grauem, durchbrochenem Metall. Sie sahen beeindruckend aus, aber Tatiana hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten. War er Gefreiter? Er trug ein Gewehr. Aber hatten Gefreite Gewehre? Links auf der Brust hing eine Goldmedaille. Er war jung und hatte dunkles Haar. Es steht ihm gut, dachte Tatiana, als sie schüchtern in seine Augen blickte, die karamell-farben waren - eine Spur dunkler als ihr Karamelleis. Waren das die Augen eines Soldaten? Es waren friedliche und lächelnde Augen.
    Tatiana und der Soldat blickten sich lange an. Fremde sahen einander normalerweise kaum mit einer derartigen Intensität an, bevor sie die Augen wieder abwandten. Tatiana hatte das Bedürfnis, ihn mit Namen anzusprechen. Sie war erhitzt und ihr war ein wenig unbehaglich
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