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Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)

Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)

Titel: Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
Autoren: Kimberly McCreight
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aufgebrachten Prozessgegner und einem unzufriedenen Mandanten herumschlagen und trotzdem immer noch gute Laune verbreiten. » Mit Victor Starke komme ich schon zurecht. Fahr du los und kümmere dich um Amelia. «
    Kate nahm die U-Bahn, um das Verkehrschaos zu vermeiden, aber sie war schon fünfundvierzig Minuten über die Zeit, als der Zug der Linie 2 kurz vor der Haltestelle Nevins Street aus unerfindlichen Gründen stehen blieb. Sie würde fünfzig, fünfundfünfzig Minuten zu spät kommen. Wenn sie Glück hatte. Wahrscheinlich würde man das wieder als Beweis dafür ansehen, dass sie eine schlechte Mutter war. Mutter unpünktlich, Kind verwahrlost. Eine naheliegende Schlussfolgerung.
    Je länger Kate darüber nachdachte, umso mehr war sie davon überzeugt, dass es etwas Schlimmes sein musste, was Amelia vorgeworfen wurde. Die Schule hielt sich zugute, besonders liberal zu sein, weltoffen und auf das Wohl der Schüler bedacht. Grace Hall, vor zweihundert Jahren von einer Gruppe New Yorker Intellektueller gegründet– Dramatiker, Künstler, Politiker–, genoss einen guten Ruf wegen ihres hohen akademischen Niveaus und ihres unvergleichlichen künstlerisch-musischen Angebots. Zwar wurde die Schule häufig in einem Atemzug mit den alten Eliteschulen in Manhattan genannt– Dalton, Collegiate, Trinity–, sie galt jedoch, da sie in Brooklyn lag, als eher unkonventionell. Grace Hall lehnte Lehrbücher und standardisierte Testverfahren ab und setzte stattdessen auf Erlebnispädagogik. In Anbetracht des Fehlens formeller Regeln konnte Kate sich nicht vorstellen, was dazu führen konnte, dass eine Schülerin vom Unterricht ausgeschlossen wurde.
    Plötzlich machte der Zug zischend und stotternd einen Satz, dann blieb er wieder stehen. Kate schaute auf ihre Uhr. Eine Stunde und fünf Minuten über die Zeit, mindestens. Noch vier Stationen. Verdammt. Dauernd kam sie zu spät. Überall. Sie stand auf und blieb neben der Tür stehen. Ihre innere Unruhe wuchs.
    In letzter Zeit hatte Amelia ziemlich abwesend gewirkt, fast ein bisschen launisch. Sie war fünfzehn, Launen gehörten zum Leben eines Teenagers. Aber es schien mehr als das zu sein. Zum Beispiel hatte Amelia neuerdings angefangen, nach ihrem Vater zu fragen. Anscheinend reichte Kates Standarderklärung, warum Amelia keinen Daddy hatte, nicht mehr aus– dass er nach einer einzigen flüchtigen Begegnung als Lehrer nach Ghana gegangen und nie zurückgekehrt war. Erst gestern Morgen hatte Amelia den Wunsch geäußert, an diesem absurden Auslandsaustauschprogramm teilzunehmen.
    » Mom, hörst du mir überhaupt zu? «
    Amelia hatte in ihrem kleinen Haus mit vor der Brust verschränkten Armen am Küchentresen gelehnt. Mit ihren langen, blonden Haaren, die ihr in Wellen über die Schultern fielen, und ihren wundersamen Augen– eins blau, eins braun–, die im warmen Morgenlicht leuchteten, hatte sie so viel erwachsener, so viel größer gewirkt als noch am Tag zuvor. Sie hatte Kates hohe Wangenknochen und das herzförmige Gesicht geerbt und war ein ausgesprochen hübsches Mädchen. Und sexy in ihren tiefsitzenden Jeans und dem engen T-Shirt mit Spaghettiträgern. Zum Glück war sie auch immer noch ein bisschen burschikos.
    » Ja, Amelia, ich höre dir zu « , hatte Kate geantwortet, bemüht, nicht die Geduld zu verlieren. Sie hatte gerade vorgeschlagen, das Thanksgiving-Wochenende auf den Bermudas zu verbringen, aber so finster, wie ihre Tochter dreinblickte, hätte man meinen können, sie hätte ihr ein Wochenende in einer Zahnklinik angeboten. » Ich höre dir immer zu. «
    » Ich will für ein halbes Jahr nach Paris « , sagte Amelia.
    » Paris? « Kate stopfte ihren Laptop und ein paar Akten in ihre Tasche und sah sich nach ihrem Handy um, von dem sie glaubte, sie hätte es auf dem Küchentresen abgelegt. Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, während Amelia sie durchdringend ansah. Es war noch nass, dabei hätte sie schwören können, sie hätte es trockengeföhnt. » Das ist so weit weg. «
    Entgegen ihren guten Vorsätzen begann Kate sich zu ärgern. Es war offensichtlich, dass Amelia die Auseinandersetzung ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt suchte, wo Kate zur Arbeit musste und spät dran war. Manchmal fragte sich Kate, ob Amelia berechnender war, als sie es ihr zutraute. Sie kam ihren Wünschen häufig nur deshalb nach– lange ausbleiben, bei einer Freundin übernachten, zu einer Party gehen–, weil sie gestresst oder in Eile war. Aber ein Schulhalbjahr in
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