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Die letzte Flucht

Die letzte Flucht

Titel: Die letzte Flucht
Autoren: Wolfgang Schorlau
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tranken, lachten, dann füllte Dengler die beiden Gläser erneut.
    ***
    »Hast du etwas Nützliches gelernt?«, fragte sie, als sie später erschöpft in ihrem Bett lagen.
    »Ja. Ich weiß jetzt, dass dein Gesicht aus 43 einzelnen Muskeln besteht«, sagte er und streichelte mit zwei Fingern ihre Stirn. »Manche davon kannst du willentlich bewegen, auf andere hast du keinen bewussten Einfluss.«
    »Das FBI weiß etwas über meine Gesichtsmuskeln?«, fragte sie schläfrig.
    »Alles.«
    »Was?«
    »Wenn du dich an etwas erinnerst, an etwas Schönes zum Beispiel …«
    »Hmm, das mache ich gerade.«
    »… dann wandern deine Pupillen nach links oben. Wenn du dir aber etwas ausdenkst, wandern sie nach rechts oben. Das kannst du nicht beeinflussen. Es ist hirnphysiologisch gesteuert. Unabänderbar. Wenn ich einen Zeugen frage, ob er sich an eine bestimmte Situation erinnert, und seine Augen wandern nach rechts oben, dann weiß ich, dass er lügt.«
    »Aber ich habe meine Augen doch geschlossen.«
    »Mist. Über das Erkennen von Lügnern bei geschlossenen Augen habe ich nichts gelernt.«
    »Das kommt beim Seminar für Fortgeschrittene«, sagte sie schläfrig.
    »Das Bundeskriminalamt wird mir keinen zweiten Kurs mehr sponsern.«
    »Dann bleibst du hier. In meinem Bett. Für immer und ewig.«
    »Das willst du?«
    »Hmm.«
    »Deine Pupillen wanderten eben nach rechts oben. Du hast es dir ausgedacht. Es ist geschwindelt.«
    »Ich hab doch die Augen zu, du Lügner. Ich erkenne dich ganz ohne FBI – Seminar.«
    Sie zog ihn an sich.
    ***
    »In der Stadt herrscht Aufruhr«, sagte Mario. »Wir stehen vor einer revolutionären Situation.«
    »Das ist völlig übertrieben«, sagte Martin Klein.
    »Das ist totaler Quatsch«, sagte Leopold Harder.
    »Eine revolutionäre Situation ist dadurch definiert, dass die unteren Klassen nicht mehr so wollen und die oberen nicht mehr so können wie bisher«, sagte Mario.
    »Das könnte auf Stuttgart zutreffen«, gab Klein zu.
    Denglers Freunde feierten seine Ankunft im Basta , dem Lokal, das im Erdgeschoss des Hauses lag, in dem Dengler, Martin Klein und Olga wohnten. Im ersten Stock waren Denglers Büro und Wohnung sowie Kleins Dreizimmerwohnung. Im zweiten Stock wohnte Olga.
    »Aha, es geht immer noch um euren Bahnhof«, sagte Dengler. »Ich war fast den ganzen September nicht in der Stadt, hat sich also offenbar nicht viel getan in dieser Zeit.«
    »Es ist eine bürgerliche Protestbewegung. Nicht die anarchistische Künstlerrevolte, von der Mario träumt, seitdem er auf der Welt ist«, sagte Leopold Harder.
    »Davon träume ich, das stimmt. Ich träume von einer gerechten Gesellschaft.«
    »Wir wollen bloß ein irrsinniges Bahnprojekt verhindern«, sagte Klein.
    »So reden sie jeden Tag«, flüsterte Olga in Denglers Ohr. »Jeden Tag! Die ganze Stadt kennt kein anderes Thema. Der Bahnhof am Morgen, der Bahnhof am Mittag, der Bahnhof am Abend und auch in der Nacht. Montags rennen deine Freunde auf die Montagsdemo, dienstags treffen sich die Juristen, die Ärzte, die Unternehmer gegen Stuttgart 21, mittwochs findet ein Protest-Gottesdienst im Schlossgarten statt, donnerstags treffen sich neuerdings die Stuttgart-21-Befürworter zu einer Demonstration …«
    »Demonstratiönle«, rief Klein dazwischen. »Zweihundert ältere Herren versammeln sich.«
    »Freitags kann man zu den Senioren gegen Stuttgart 21 gehen, der Jugendinitiative gegen S 21, den Gewerkschaftern gegen S 21, man kann an einem Sitzblockadetraining teilnehmen oder …«
    »… zu den Journalisten gegen Stuttgart 21 gehen«, sagte Harder, der als Wirtschaftsjournalist beim Stuttgarter Blatt arbeitete.
    »Es gibt Psychologen gegen S 21«, sagte Klein, »Mediziner gegen S 21, es gibt …«
    »Samstags findet die Großdemo gegen Stuttgart 21 statt«, fuhr Olga fort. »Nur sonntags ruht der Protestbetrieb. So sieht das aus in dieser Stadt.«
    »Jeden Tag um 19 Uhr macht die ganze Stadt Lärm. Eine Minute lang. Das ist der Schwabenstreich. Eine gute Sache,endlich lernt man die Nachbarn auf den anderen Balkonen und hinter den Fenstern kennen.«
    »Da kommt New York echt nicht mit«, sagte Dengler.
    Die Freunde lachten.
    Der kahlköpfige Kellner nahm dies als Zeichen und brachte eine neue Flasche.
    Die Stimmung war so ausgelassen, dass Dengler das Handy nicht hörte.
    »Es klingelt«, sagte Mario.
    Dengler zögerte. Eigentlich hatte er keine Lust, außerdem wusste er, dass Olga es nicht leiden konnte, wenn er bei jeder Gelegenheit
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