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Die Legende der Wächter 2: Die Wanderschaft

Die Legende der Wächter 2: Die Wanderschaft

Titel: Die Legende der Wächter 2: Die Wanderschaft
Autoren: Kathryn Lasky
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solltet ihr euch sonst in den Morgenstunden am Himmel tummeln, wenn es für eine Eule am allergefährlichsten ist? Denkt doch nur, wie sich eure Eltern für so ein Verhalten schämen würden! Denn man merkt euch an, dass ihr aus gutem Nest kommt.“ Sie sah Soren blinzelnd an.
    Soren platzte fast vor Wut. Woher wollte diese Eule wissen, wofür sich seine Eltern schämen würden? Wie konnte sie sich anmaßen zu behaupten, seine Eltern so gut zu kennen?
    Eine Zischelstimme warf ein: „Ich persönlich schäme mich für jeden, der Augen hat und trotzdem nichts sieht.“ Mr s Plithiver kroch aus dem Winkel der Baumhöhle hervor, in den sie sich zurückgezogen hatte. „Wobei es natürlich keine Kunst ist, mit zwei gesunden Augen zu sehen.“
    „Was redet die da?“, fragte das fremde Eulenmännchen.
    „Früher galt: Personal soll man sehen, aber nicht hören. Da hätte sich mal eine Nesthälterin so was trauen sollen!“, kam es von seiner Frau.
    „Ganz recht“, entgegnete Mr s Plithiver. „Und ich bin noch nicht fertig!“ Sie ringelte sich anmutig zusammen und wandte Soren den Kopf zu.
    „Ich bin zwar eine Blindschlange, aber wie könnt ihr behaupten, dass ich nicht genauso gut sehe wie ihr?“ Ihr Kopf schwang herum und war nun auf die fremde Eulenfrau gerichtet. Die machte ein so beklommenes Gesicht, als sähe die alte Nesthälterin sie tatsächlich mit ihren beiden Augenmulden streng an. „Wer sagt, dass ich nicht auch sehen kann? Mit den Augen sehen kann jeder. Ich sehe mit dem ganzen Körper: mit der Haut, dem Rückgrat, mit jedem einzelnen Wirbel. Und zwischen den langsamen Schlägen meines Herzens spüre ich nicht nur ganz genau, was unmittelbar um mich herum, sondern auch, was weiter weg vor sich geht. Ich kenne sogar den Fernen! Und zwar kannte ich ihn schon, bevor ich ihn auf den Rücken dieser Eulen selber erreichte, jawohl! Habe ich vor dieser Erfahrung vielleicht behauptet, es gäbe ihn nicht? Für wie beschränkt hätten Sie mich gehalten, gnädige Frau, wenn ich behauptet hätte, es gäbe keinen Himmel, bloß weil ich ihn nicht sehen und fliegend durchmessen kann? Und wie beschränkt müssen Sie sein zu behaupten, dass es das Hoolemeer nicht gibt?“
    „Ich hab mich wohl verhört!“ Die fremde Eulenfrau war fassungslos, ihr Blick suchte den ihres Gatten. „Hast du das mitgekriegt? ,Beschränkt‘ hat sie mich genannt!“
    Mr s Plithiver fuhr unbeirrt fort: „Der Himmel ist nicht nur für die Vögel da, die ihn auf ihren Schwingen durchqueren, ihn in ihren Federn, Knochen und Adern spüren! Es gibt ihn genauso für alle anderen Lebewesen. Für sie ist er der Ferne, aber nur, wenn sie ihre Herzen und Sinne öffnen, um ihn zu erfahren. Und wenn der Ferne ruft, dann ruft er uns alle, ganz egal, ob wir ihn nun ,Hoolemeer‘ nennen, ,Paradies‘ oder ,Glaumora‘.“ Glaumora waren jene himmlischen Gefilde, welche die Seelen verstorbener Eulen aufnahmen. „Und darum sage ich“, beschloss Mr s Plithiver ihre Rede, „dass manch einer das Augenlicht erst verlieren muss, um richtig sehen zu können.“ Sie neigte den Kopf und kroch wieder in ihren Winkel. In der Baumhöhle herrschte betroffene Stille.
    Die vier jungen Eulen warteten das erste Dunkel ab, dann brachen sie wieder auf. „Tagsüber wird nicht mehr gefloge n – abgemacht?“, hatte Mr s Plithiver gesagt, als sie es sich wieder in Sorens Schultergefieder bequem machte.
    „Abgemacht“, hatten die vier Eulen im Chor erwidert.
    Sie näherten sich den Ausläufern von Tyto, dem Waldkönigreich, wo Soren mit seinen Eltern gelebt hatte. Zwar war er genauso aufmerksam bei der Sache wie stets und auch seinen Flugkünsten war nichts anzumerken, aber Mr s Plithiver spürte doch, dass Soren etwas beschäftigte. Er beteiligte sich nicht wie sonst am Geplauder seiner Gefährten. Die alte Nesthälterin ahnte, dass er an seine Eltern dachte, an die Familie, die er verloren hatte, und ganz besonders an seine heiß geliebte kleine Schwester Eglantine. Es war ausgesprochen unwahrscheinlich, dass er auch nur ein einziges Mitglied seiner Familie je wiedersah. Das wusste Soren sehr wohl. Und doch schmerzte ihn der Verlust, das konnte die Blindschlange spüren. Soren selbst hätte es nicht „Schmerz“ genannt. Kurz nach ihrem Wiedersehen hatte er der alten Nesthälterin anvertraut, er spüre eine Art Loch im Magen und das Loch sei kleiner geworden, als er sie wiedergetroffen habe. Doch die Blindschlange verstand, dass sich dieses Loch noch längst nicht
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