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Die Lanze des Herrn

Die Lanze des Herrn

Titel: Die Lanze des Herrn
Autoren: Arnaud Delalande
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sich selbst halten? Wird es überhaupt verstehen, wer es ist, wo es doch so allein, so absolut allein auf der Welt ist? Wir haben keine Ahnung, wie es sich entwickeln wird. Stellen wir uns vor, es hätte wirklich außergewöhnliche Fähigkeiten. Oder übernatürliche. Stellen wir uns vor, dieser Mensch, auch wenn er ein Klon ist, besitzt etwas, das stärker ist als wir. Er hat immerhin das berühmte unbekannte Allel. Die angebliche Signatur des Heiligen Geistes. Das ungewöhnliche Seelen-Gen. Wenn sich mit ihm wirklich eine neue Inkarnation vollzieht, auf diesem abartigen Weg, gezeugt von Hexenmeistern und mit den Mitteln der Technologie, was geschieht dann? Wenn er wirklich das Zeichen göttlicher Abkunft trägt… glauben Sie tatsächlich, dass dieses Kind das Heil der Welt bedeuten wird?«
    Acquaviva hob die Arme.
    »Wird er das Ende der Zeiten verkünden, von dem alle Religionen reden und unsere zu allererst? Seit der Morgenröte der menschlichen Poesie? Seit Beginn der unruhigen Betrachtung der Geheimnisse des Lebens? Muss man sich auf dieses sinnlose Spiel einlassen? Und wer garantiert uns, dass er nicht der Bote der Zerstörung sein wird? Was für ein Hohn! Aber ich erinnere mich an den Erzvater Abraham, wie er an der Stelle in Jerusalem opferte, welche heute die drei monotheistischen Religionen verehren und den Felsendom nennen. Ich erinnere mich an die Bibelstelle, wo Gott von Abraham verlangt, seinen Sohn zu opfern, weil er seinen Glauben auf die Probe stellen will. Unter diesen Umständen, Heiliger Vater, könnte ich für ein Opfer plädieren. Ein Leben gegen die ganze Welt.«
    Er ging im Raum auf und ab.
    »Wir haben die Wahl zwischen zwei Apokalypsen. Und ich weigere mich, eine Wahl zu treffen.«
    Der Papst sah, wie erregt er war, und warf ihm einen Blick zu, der ihn beruhigen sollte. Dann beschloss er zu reden.
    »Kommt es darauf an, unsere Macht zu schützen? Die Macht der Kirche? Kommt es wirklich darauf an oder kommt es darauf an, der Botschaft Jesu treu zu bleiben?«
    Er sah den Kardinal erneut an und wandte sich auch Kardinal Lorenzo und Judith zu, die ihm gegenübersaßen.
    »Von welchem Prinzip müssen wir uns heute leiten lassen?«
    Er machte einige Schritte und sah sie wieder an.
    »Ich habe unablässig gebetet«, sagte er. »Ich habe nicht aufgehört zu glauben und zu hoffen. Wir haben viele Fehler begangen, die Gott uns verzeihen möge. Wir sind in Frage gestellt worden? Umso besser. Das erinnert uns umso mehr an unsere Verantwortung. Wir werden dadurch gezwungen, an die Vergangenheit zu denken, uns unsere Geschichte fortwährend als Spiegel vorzuhalten. Die Versuchung, in blinden Dogmatismus zu verfallen, ist bei uns ebenso gegeben wie in anderen Religionen, und ich würde sogar sagen, wie bei allen Formen des Denkens. Im Zentrum unserer Botschaft stand immer der Gedanke, dass eine bessere Welt entstehen soll. Das wollen wir erreichen. Wir haben zu den Armen und Leidenden gesagt, dass sie es verdienen zu leben, dass auch sie geliebt werden, eines Tages die Ersten unter uns sein werden und nicht die Stiefkinder des Lebens. Den Sterbenden haben wir Mut zugesprochen. Bei einer Geburt haben wir das Wunder des neuen Lebens gefeiert. Die Menschenrechte sind auf dem Boden des für alle Menschen bestimmten Evangeliums entstanden. Richten mag der Zynismus über uns, aber mit unserer Botschaft Schritt zu halten, das vermag er nicht. Das Risiko des Glaubens auf sich zu nehmen, wie immer dieser aussehen möge, ist Teil unseres Menschseins.«
    Er schwieg, um seinen Zuhörern ins Gesicht zu sehen.
    »Unser Menschsein. Geht es hier nicht genau darum? Welches Prinzip soll uns heute leiten?«
    Er senkte den Kopf und betrachtete die verschlungenen Motive des schönen Teppichs, auf dem er stand.
    Judith war beeindruckt von der Ruhe, die er ausstrahlte.
    »Was uns leiten muss, ist die Botschaft Jesu. Ich frage Sie: Was hätte Jesus an unserer Stelle getan? Das ist die richtige, wichtige und einzige Frage. Es führt zu gar nichts, wenn wir jetzt rekapitulieren, was uns dahin gebracht hat, wo wir jetzt sind. Dem Übel ins Auge sehen müssen wir heute. Das Übel ist bereits geschehen. Sie sagen, und nicht zu Unrecht, unser Dilemma bestehe darin, dass wir zwischen dem Leben und einer Welt wählen müssen… Aber Sie wollen sich dieser Wahl nicht stellen. Und Sie haben recht. Ich entscheide mich für das Leben dieses Kindes. Vielleicht sollte ich das nicht tun, aber ich übernehme die Verantwortung dafür.«
    Er
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