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Die Judenbuche

Die Judenbuche

Titel: Die Judenbuche
Autoren: von Anette Droste-Huelshoff
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des Vaters, die Isolation im Dorf, der Einfluß des zwielichtigen Oheims, die im Doppelgängermotivverbildlichte Identitätsschwäche – all das wirkt zusammen, um Friedrich Mergel auf die schiefe Bahn zu bringen. Auf das Aufpassen im Dienst der Blaukittel folgt die Beihilfe zum Mord am Förster und auf diese die Ermordung Aarons. Von entscheidender Bedeutung ist dabei Friedrichs soziale Position. Nur durch den Anschluß an seinen Onkel Simon scheint für den ›Underdog‹ Friedrich die Chance gegeben, eine wie auch immer fragwürdige gesellschaftliche Stellung einzunehmen. Friedrichs »Natur war nicht unedel«, unter den gegebenen Bedingungen aber entwickelt er sich zum skrupellosen Aufschneider, der sein erschlichenes Ansehen auch mit Gewalt zu verteidigen sucht. Sein Verhalten erscheint als Überkompensation seiner Unterlegenheit: Gerade weil seine soziale Existenz völlig ungesichert ist, neigt Friedrich dazu, dieses Faktum durch die Produktion von sozialem Schein zu maskieren und vergessen zu machen – und dabei auch zu übertreiben. Genau das aber ist der Punkt, an dem Friedrich von den späteren Mordopfern getroffen wird: Er fühlt sich gedemütigt und entlarvt, seine Stellung im Dorf und damit seine Identität sind bedroht. Auf diese Gefahr scheint Friedrich nur mit Gewalt reagieren zu können. In einer konsequent sozialpsychologischen Lesart nimmt er sich am Ende selbst das Leben, und das mag auf ein Fortleben der ›edlen‹ Anteile seiner ›Natur‹ verweisen – des Gewissens und des inneren Rechtsgefühls, das ihn zur Selbstbestrafung treibt.
    Freilich wirft der Schluß der Judenbuche weit mehr Fragen auf, als mit dieser Version gelöst werden können. Denn schließlich scheint hier ja der in die Buche eingehauenehebräische Spruch in Erfüllung zu gehen, und das hat zu metaphysischen Spekulationen aller Art Anlaß gegeben. Damit bewegt man sich im zweiten Deutungsmuster, das die Erzählung als ein metaphysisches Exempel begreift, als eine Geschichte um Erbsünde und Schuld, Teufelspakt und Gewissensqual, Verdammung oder Gnade. Ist es also eine höhere Gewalt, die den Täter am Ende der Strafe zuführt, weil die irdische Gerechtigkeit versagt? Und welcher Art ist dann diese Macht? In der Tat ist der Text von Anfang an mit Anspielungen auf übernatürliche Instanzen durchsetzt. Der volkstümliche Aberglaube kommt zu Wort, am Oheim Simon glaubte man teuflische Züge wahrnehmen zu können, die äußere Natur scheint gelegentlich ein geheimnisvoller Mitspieler zu sein, auch das Schicksal hat man ins Spiel gebracht, Aarons Witwe und die jüdische Gemeinde beschwören die Rache des alttestamentlichen Jehova, und daneben finden sich schließlich zahlreiche Zitate aus dem Neuen Testament. Da aber beginnen schon wieder die Schwierigkeiten. Denn wie ist etwa das alttestamentliche Vergeltungsdenken mit dem neutestamentlich-christlichen Gedanken der Gnade und der Erlösung vereinbar, der mit dem Weihnachtslied herbeizitiert wird? Zweifellos sind in der Erzählung Bedeutungsschichten angelegt, die über eine rein innerweltliche Sicht des Geschehens hinauszuweisen scheinen. Ebenso deutlich ist aber auch, daß sie sich nicht zu einem einheitlichen Konzept fügen. Ein geschlossenes christliches Weltbild ist dem Text ebensowenig zu entnehmen wie ein fatalistisches oder ein naturmagisches. Und auffällig ist ja überdies, daß die Erzählunguns gleich mehrere Erklärungen des Geschehens anbietet, die miteinander konkurrieren. Ein metaphysisches Exempel – aber für welche Metaphysik?
    Erzähltechnisch gesehen, gründen die Schwierigkeiten mit dem Verständnis der Judenbuche darin, daß Droste-Hülshoff Sachverhalte nicht vollständig, sondern lückenhaft mitteilt, daß sie widersprüchliche Deutungsangebote macht, daß sie vieles in der Schwebe hält und manches ahnen läßt, ohne es direkt auszusprechen. Die Poetik des Textes ist eine der Andeutungen, der Indizien und Spuren. Die Dunkelheit, die Turgenjew und andere beklagt haben, ist die zwangsläufige Folge eines solchen Erzählverfahrens. Niemand hat das besser gesehen als die Autorin selbst. Über ihr Versepos Das Hospiz auf dem großen St. Bernhard schreibt sie in einem Brief von 1838 halb entschuldigend, ihre Neigung zum Streichen und Verknappen habe manche Undeutlichkeit bewirkt: »Brevis esse volo, obscura fio« (»Ich möchte kurz sein und werde dunkel«). Entschiedener noch nimmt sich das in dem dramatischen Versuch Perdu! oder Dichter, Verleger, und
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