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Die italienischen Momente im Leben

Die italienischen Momente im Leben

Titel: Die italienischen Momente im Leben
Autoren: Bruno Maccallini
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einer langen Winterpause auf und kündigte seine Ankunft auf der Piazza schon von Weitem mit diesem unverwechselbaren Klingeln an: »Drinnng … dring!«
    Gemeinsam mit meinem Vater drängte sich dann stets eine kleine Menschentraube freudig um den Karren. Der Eishändler schaufelte ununterbrochen mit seinem Spatel enorme Portionen in die Waffelhörnchen, besserte ab und zu mit geschickter Hand nach und rief dabei:
    »Eis … Eis … ein Eis von mir ganz wunderbar,
    erfrischt die ganze Kinderschar
    und wollt ihr Ruh’ im ganzen Haus,
    gebt Schwiegermama auch eins aus!«
    Obwohl mein Vater ein sehr zerstreuter Mann war, konnten nur wenige Dinge seinen klaren Verstand trüben und ihn ernsthaft durcheinanderbringen: eines davon war eine Eiswaffel. EinSahnehäubchen konnte ihn so in Verzückung versetzen, dass er die Welt um sich herum völlig vergaß. Und an jenem Morgen auf der Piazza Castello hatte er mich vollkommen vergessen. Also, eigentlich hatte er mich ja einer jungen Frau anvertraut, die dort Tauben fotografierte, und sie gebeten, kurz auf mich aufzupassen, während er ein Eis kaufen ging. Er hatte ihr erklärt, wenn ich unbeaufsichtigt bliebe, könnte ich in der Zwischenzeit Spaziergängern oder, schlimmer noch, einer Gruppe Bersaglieri zwischen die Füße laufen, die anlässlich eines Regionaltreffens allmählich die Straßen des Zentrums füllten, auf dem Kopf die typischen Hüte mit den Federbuschen.
    Meine Mutter, die im Hotel geblieben war, sollte ihm diese »Zerstreutheit« viele Jahre lang nicht verzeihen. Den Ausflug nach Turin machten wir im Übrigen wegen eines dieser stinklangweiligen forensischen Kongresse, zu denen mein Vater stets die ganze Familie mitnahm. Dieses Mal hatten sich meine Brüder davor drücken können und waren in den Abruzzen geblieben, weil sie angeblich so viel für die Schule zu lernen hatten. Wahrscheinlich, aber das wurde mir erst später klar, langweilten sie sich schon in den Sommerferien und umso mehr auf diesen Geschäftsreisen ohne ihre Freunde oder irgendeine andere Unterhaltung. Ich dagegen, der Kleinste, war ziemlich genügsam und empfand solche Ferien im Kreise der Familie noch nicht als langweilig.
    Ich war gerade mal fünf Jahre alt.
    Als die Blaskapelle der Bersaglieri einen flotten Marsch anstimmte, heulte ich los. Obwohl mich die wippenden Federn auf diesen merkwürdigen Hüten faszinierten, die beim Vorbeimarschieren im Wind wehten, begann ich mich doch zu fragen, was meine kleine Kinderhand am Arm einer fremden Frau verloren hatte. Ein Riesenschwarm Tauben hatte die Piazza in Besitz genommen: Fett, grau und kugelrund saßen sie überall und pickten still die Krümel auf, die die Touristen zurückgelassen hatten. Die einzige, die sich ein wenig abseits hielt, beschloss,mir beim Landeanflug auf eine Bank auf den Kopf zu kacken. Zum Glück hatte ich eine braune Mütze auf, und die fremde Frau griff auch sofort hastig nach ihrem Taschentuch, um sie zu säubern.
    »Sie können ja nichts dafür, dass sie in der Stadt leben und sich um jeden Brotkrümel zanken müssen«, sagte sie. Und mein Vater hatte mir erst wenige Minuten zuvor, als er mich noch an der Hand hielt, versichert, dass diese armen Vögel ganz harmlos seien, aber seit ewigen Zeiten als »Ratten der Luft« verunglimpft würden. Deshalb hatte ich keine Angst. Ich kenne richtige Taubenhasser, Menschen, die nach einem klassischen »Taubenschiss« von oben sofort ihre Kleider verbrennen oder zum Arzt rennen, um ihr Blut auf eventuelle tödliche Seuchen untersuchen zu lassen. Ein Freund von mir hat einmal gesagt, in einem ausgeschalteten Computermonitor sei mehr Persönlichkeit und Gefühl zu finden als in ihren Augen. Vielleicht hat er recht, aber ich konnte Tauben nie hassen. Im Gegenteil, am liebsten hätte ich den Arm der fremden Frau losgelassen und wäre mit ihnen geflogen. Vielleicht schlummerte schon damals die Sehnsucht in mir, die Dinge anders, aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
    Als Kind sehen wir beim Gehen ja oft bloß auf den Weg vor unseren Füßen oder höchstens geradeaus. Wir laufen durch Straßen, die wir in- und auswendig kennen und gar nicht mehr wahrnehmen, ganz selten heben wir mal den Kopf. Aber sobald wir auf einen freien Platz kommen, bleiben wir stehen und genießen die Aussicht: Wie schön sind doch die Vögel, die über unseren Köpfen fliegen, uns beobachten und die Luft beherrschen … und wie glücklich sind wir, während wir sie verzaubert beobachten!
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