Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel Des Vorigen Tages

Die Insel Des Vorigen Tages

Titel: Die Insel Des Vorigen Tages
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
offene Meer.
    Nachdem er diese Möglichkeiten in aller Nüchternheit abgewogen hatte (und sich gesagt hatte, daß das Leben kurz und die Kunst lang ist, die Gelegenheit blitzartig und das Experiment unsicher), sagte er sich, daß es eines Edelmannes nicht würdig sei, sich in so kleinliche Abwägungen zu verlieren, wie ein Bürger, der seine Chancen überschlägt, wenn er seine geizig gehüteten Ersparnisse beim Würfeln aufs Spiel setzt.
    Beziehungsweise, sagte er sich, eine Abwägung muß ich schon vornehmen, aber eine erhabene soll es sein, wenn der Einsatz ein so erhabener ist. Worum ging es bei dieser Wette? Um sein Leben. Doch wenn es ihm nicht gelang, das Schiff zu verlassen, war sein Leben ohnehin nicht mehr viel wert, zumal jetzt, da zu seiner Einsamkeit noch das Bewußtsein hinzukommen würde, Lilia für immer verloren zu haben. Was gewann er dagegen, wenn er die Probe bestand? Alles: die Freude, sie wiederzusehen und sie zu retten, und schlimmstenfalls, wenn sie schon tot war, das Glück, auf ihr sterben zu dürfen, ihren toten Körper mit einem Leichentuch aus Küssen bedeckend.
    Gewiß, das war keine Wette mit gleichen Chancen. Es gab mehr Möglichkeiten, unterwegs zu scheitern, als wirklich an Land zu gelangen. Dennoch würde das Wagnis sich lohnen: Es war, als würde ihm eine Wette angeboten, bei der er tausend Chancen hatte, eine klägliche Summe zu verlieren, gegenüber nur einer einzigen, einen riesigen Schatz zu gewinnen. Wer hätte da nicht eingewilligt?
    Und schließlich kam ihm noch ein anderer Gedanke, der ihm das Risiko dieser Wette über die Maßen verringerte, ja ihn in jedem Falle als Sieger dastehen ließ. Selbst angenommen, die Strömung würde ihn in die entgegengesetzte Richtung davonziehen, so würde sie ihn, sobald er das Nordkap der Insel passiert hatte - er erinnerte sich an seine Probe mit dem Türblatt -, auf dem Meridian entlangtreiben ...
    Wenn er sich in der Strömung treiben ließe, die Augen zum Himmel gerichtet, würde er die Sonne nie mehr in Bewegung sehen; er wurde auf jener Grenzlinie entlangtreiben, die das Heute vom Gestern trennt, also außerhalb der Zeit, in einem ewigen Mittag. Da die Zeit für ihn stehengeblieben wäre, würde sie auch für die Insel stehenbleiben und somit den Tod der Geliebten auf ewig hinauszögern, denn alles, was von da an mit Lilia geschah, würde dann von seinem Willen als Erzähler abhängen. Solange er in der Schwebe blieb, blieb auch das Geschehen auf der Insel in der Schwebe.
    Ein höchst pointierter Chiasmus obendrein: Sie würde sich in der nämlichen Lage befinden, in welcher er während einer inzwischen unabsehbaren Zeit gewesen war, lediglich einige Klafter von der Insel entfernt, und während er sich in den Weiten des Ozeans verlor, würde er ihr seine einstige Hoffnung schenken und würde sie in der Schwebe halten auf der Fluchtlinie eines unendlichen Begehrens - beide ohne Zukunft und mithin ohne kommenden Tod.
    Roberto malte sich aus, was für eine Reise er machen würde, und dank der Fusion zweier Welten, die er nun besiegelt hatte, empfand er diese Reise so, als wäre sie auch Lilias Reise. Das außerordentliche Schicksal Robertos würde auch Lilia eine Unsterblichkeit garantieren, die ihr das Drama der Längengrade sonst nicht gewährt hätte.
    Er würde mit mäßiger und gleichbleibender Geschwindigkeit nach Norden treiben; rechts und links von ihm würden die Tage und Nächte einander folgen, die Jahreszeiten, die Eklipsen und die Gezeiten, neue Sterne würden am Himmel erscheinen, um Pestepidemien und Zusammenbrüche ganzer Reiche zu bringen, Monarchen und Päpste würden ergrauen und in Staubwolken verschwinden, alle Wirbel des Universums würden ihre stürmischen Umdrehungen vollenden, andere Sterne würden sich bilden aus dem Verglühen der alten ... Das Meer rings um ihn würde toben und sich wieder beruhigen, die Passatwinde würden ihre neckischen Spiele treiben, nur für ihn würde sich nichts verändern auf seiner friedlichen Bahn.
    Würde er eines Tages anhalten? Nach dem, was er von den Karten in Erinnerung hatte, gab es auf diesem Meridian keine andere Insel als die Insula Salomonis, jedenfalls bis er sich am Nordpol mit allen anderen Meridianen vereinte. Doch wenn ein Schiff mit dem Wind im Rücken und mit einem Wald von Segeln Monate und Monate und nochmals Monate brauchte, um eine Reise zurückzulegen, wie er sie machen würde, wie lange würde dann er dafür brauchen? Vielleicht würde es Jahre dauern, bis
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher