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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages
Autoren: Umberto Eco
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Metallspäne anziehe, oder an die großen Eisenberge, die den Norden unseres Planeten bedeckten und so die Kompassnadel anzögen. In gleicher Weise ziehe die Waffensalbe, wenn sie auf die Klinge gestrichen werde, jene Eigenschaften des Eisens an, welche der Degen in der Wunde gelassen habe, wo sie die Heilung verhinderten.
    Jeder, der so etwas in der Kindheit erlebt hat, bleibt davon sein Leben lang gezeichnet, und wir werden bald sehen, wie Robertos Schicksal durch sein Interesse für die Anziehungskraft von Pulvern und Salben bestimmt worden ist.
    Im übrigen war es nicht dieser Vorfall, der Robertos Kindheit am stärksten geprägt hatte. Es gab da noch einen anderen, und genauer gesagt war es kein einzelner Vorfall, sondern eine fast wie ein Kehrreim wiederholte Episode, die der Knabe in argwöhnischer Erinnerung behalten hatte. Wie es scheint, pflegte nämlich der Vater, der seinem Sohn gewiss sehr zugetan war, auch wenn er ihn mit der wortkargen Grobheit behandelte, die den Menschen jenes Landstriches eigen ist, ihn bisweilen – und gerade in seinen ersten fünf Lebensjahren – plötzlich hoch in die Luft zu heben und ihm stolz zuzurufen: »Du bist mein Erstgeborener!« Eigentlich nichts weiter Seltsames, nur eine lässliche Sünde der Redundanz, da Roberto sein einziger Sohn war. Hätte sich dann Roberto, als er größer wurde, nur nicht zu erinnern begonnen (oder sich eingeredet, sich zu erinnern), dass seine Mutter angesichts dieser väterlichen Freudenbekundungen eine Mischung aus Unruhe und Beglücktheit an den Tag legte, als hätte der Vater zwar gut daran getan, jenen Ausruf zu tun, aber als wäre dadurch in ihr eine alte, gleichsam schon eingeschlafene Angst wieder aufgeweckt worden. Robertos Phantasie hatte sich lange mit dem Ton jenes Ausrufs beschäftigt, um schließlich zu dem Ergebnis zu kommen, dass der Vater den bewussten Satz nicht wie eine selbstverständliche Feststellung ausgesprochen hatte, sondern wie eine neuartige Investitur, indem er das »du« so betonte, als wollte er sagen: » Du und nicht irgendein anderer bist mein erstgeborener Sohn.«
    Nicht irgendein anderer oder nicht jener andere? In Robertos Briefen finden sich immer wieder Hinweise auf einen anderen, dessen Existenz ihn wie eine Obsession verfolgte, und die Idee scheint ihm genau damals gekommen zu sein, als er sich eingeredet hatte – und worüber konnte ein kleiner Junge nachgrübeln, der sich allein zwischen Schlosstürmen voller Fledermäuse, zwischen Weinbergen, Eidechsen und Pferden herumtrieb, weil ihn der Umgang mit den gleichaltrigen Bauernjungen verlegen machte, und der, wenner nicht den Märchen der Großmutter zuhörte, denen des Karmeliters lauschte? –, irgendwo habe er einen nicht anerkannten Bruder, der von übler Wesensart sein musste, wenn ihn der Vater verstoßen hatte. Roberto war erst zu klein und dann zu schamhaft gewesen, um sich zu fragen, ob dieser Bruder ein Halbbruder väter- oder mütterlicherseits war (und in jedem Fall wäre auf einen der beiden Elternteile der Schatten einer alten, unverzeihlichen Verfehlung gefallen): Er war einfach ein Bruder; sicherlich war er selbst, Roberto, irgendwie schuld an seiner Verstoßung gewesen (vielleicht auf übernatürliche Weise), und darum hegte der Verstoßene sicherlich einen Hass auf ihn als den Vorgezogenen.
    Der Schatten dieses feindlichen Bruders (den er gleichwohl gerne kennengelernt hätte, um ihn zu lieben und sich von ihm lieben zu lassen) hatte seine Nächte als Kind beunruhigt; später, als Heranwachsender, hatte er in der Bibliothek alte Bücher durchgeblättert, um, in ihnen versteckt, was weiß ich, ein Porträt zu finden, eine Geburtsurkunde, ein enthüllendes Geständnis. Er war auf den Dachboden gestiegen, um alte Truhen zu öffnen, die voller Kleider der Urgroßeltern waren, Schachteln mit angelaufenen Medaillen oder mit einem maurischen Dolch, und hatte mit erstaunten Fingern Hemdchen aus feinem Leinen befühlt, die sicher einst einem kleinen Kind gehört hatten, aber wer weiß, ob vor Jahren oder vor Jahrhunderten.
    Mit der Zeit hatte er diesem verlorenen Bruder auch einen Namen gegeben, Ferrante, und hatte begonnen, ihm kleine Vergehen zuzuschreiben, die ihm zu Unrecht vorgeworfen worden waren, wie den Diebstahl einer Süßigkeit oder die unerlaubte Befreiung eines Hundes von seiner Kette. Ferrante, begünstigt durch seine Verstoßung, handelte in seinem Rücken, und er, Roberto, versteckte sich hinter Ferrante. Und langsam
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