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Die Insel der roten Erde Roman

Titel: Die Insel der roten Erde Roman
Autoren: Elizabeth Haran
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durcheinander.
    Nachdem Polly eine kleine Erfrischung serviert hatte, wandte Edna sich abermals ihrem vermeintlichen Mündel zu. »Amelia, mein Kind, ich weiß, du bist noch ein wenig verstört. Würdest du uns trotzdem die Freude machen und eins deiner Gedichte aufsagen? Du hast so viele Verse in dein Tagebuch geschrieben.« Sie bemerkte, wie der jungen Frau das Blut ins Gesicht schoss, und sah sie lauernd an.
    Sarah fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. »Ehrlich gesagt ist mir nicht danach, Tante.«
    »Oh, bitte, Amelia!« Edna wandte sich zu den Kindern um. »Ihr würdet doch auch gern ein Gedicht hören, nicht wahr?«
    Alle nickten lebhaft und baten lautstark, sie möge ihnen eins ihrer Gedichte vortragen.
    Panik erfasste Sarah und schnürte ihr buchstäblich die Luft ab. Fieberhaft versuchte sie sich an eins der Gedichte aus dem Tagebuch zu erinnern. Sie warf der echten Amelia einen verstohlenen Blick zu; diese blickte sie genauso erwartungsvoll an wie alle anderen im Zimmer.
    Sarah holte tief Luft und erhob sich mit weichen Knien. Eins der Gedichte war ziemlich einfach gewesen. Sie musste ihr Bestes geben, damit kein neuerlicher Verdacht in Edna aufkeimte. Bis sich eine weitere Gelegenheit böte, die echte Amelia loszuwerden, musste sie sich das Vertrauen der Ashbys bewahren. Sie räusperte sich und begann stockend:
     
    Dort, wo ich so oft und gerne sitze,
    Am Teich … im Schatten des … Kastanienbaumes
     
    Sie stockte, musste überlegen.
     
    In schmuckem Blau mit Bändern und mit Spitze …
     
    Wie ging es weiter? Ihr Herz raste, ihr Mund war trocken, ihr Hirn wie leer gefegt. Sie konnte sich einfach nicht an den nächsten Vers erinnern.
     
    Ein … ein …
     
    Sarah litt Höllenqualen. Plötzlich stand Amelia auf und fuhr mit leiser Stimme fort:
     
    Ein neues Leben malt’ ich mir, Abbild eines Traumes.
     
    Alle Blicke schwenkten von Sarah zur echten Amelia. Ungläubiges Erstaunen spiegelte sich auf jedem Gesicht. Woher kannte sie dieses Gedicht, das Ednas Mündel selbst verfasst und in ihr Tagebuch geschrieben hatte, wie Edna erklärt hatte?
    Alle verharrten in atemloser Spannung, als sie darauf warteten, wer den Vortrag fortsetzte. Sarah wusste, dass sie es nicht schaffen würde. Das Blut pochte ihr in den Schläfen. Einer Ohnmacht nahe, starrte sie Amelia an. Sie hoffte inständig, dass sie sich nicht an die restlichen Verse erinnern konnte.
    Doch Amelia atmete tief durch und begann zu Sarahs Entsetzen, die nächste Strophe aufzusagen. Grenzenlose Verwunderung spiegelte sich auf ihrem Gesicht, als sie fortfuhr:
    In der Luft das süße Lachen eines Knaben,
    Es flüchten Schmetterling und Nachtigall,
    Bunt ist das Jahrmarkttreiben an Sommertagen,
    Doch mit der Nacht verschmilzt des Lachens Widerhall.
     
    Plötzlich zuckten ihr Schmerzen wie Nadelstiche durch den Kopf. Sie presste beide Hände an die Schläfen und kniff die Augen zusammen. Erinnerungsfetzen tanzten vor ihrem inneren Auge, Momentaufnahmen ihrer Kindheit auf Moorcroft, ihrer Jugend; sie sah ihre Freundinnen vor sich, die Pferde, die sie besessen hatte, darunter ihr Liebling Sugar Plum. Sie erinnerte sich an die Tanzschule, an die Bälle, die sie mit ihren Eltern besucht hatte. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, als sie sich des Unfalls entsann, bei dem ihre Eltern und ihr jüngerer Bruder Marcus ums Leben gekommen waren. Die Tage danach waren die schrecklichsten ihres Lebens gewesen; die Erinnerung daran schnitt ihr tief ins Herz. Dann erinnerte sie sich an die Gazelle – und an Lucy. Tränen liefen ihr übers Gesicht, als ihr einfiel, wie das Schiff gekentert war und an Bord Panik ausbrach. Nie hatte sie solche Ängste ausgestanden wie in jenen Minuten. Sie gab ein ersticktes Schluchzen von sich. Edna und Charlton starrten sie sprachlos an. Im Raum herrschte lähmende Stille. Niemand konnte sich das sonderbare Verhalten der jungen Frau erklären – bis auf Sarah Jones.
    Plötzlich hob Amelia den Kopf und funkelte Sarah grimmig an. » Ich bin Amelia Divine«, sagte sie mit fester Stimme. Die unterdrückten Ausrufe der Bestürzung, die ihren Worten folgten, nahm sie kaum wahr. Sie fing Gabriels Blick auf und sah den Ausdruck der Fassungslosigkeit in seinen Augen.
    Mit einem Mal fiel ihr alles wieder ein: wie sie das Kliff hinaufgezogen worden war und sich den Kopf angeschlagen hatte; wie sie in den Stunden danach immer wieder das Bewusstsein verloren hatte; und wie man ihr schließlich erklärt hatte, sie
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