Die Hölle von Tarot
„Übertreibung wird dir nichts nützen. Ich möchte meinen, die Wahrheit liegt irgendwo zwischen den beiden von uns beschriebenen Extremen. Ich habe einmal jemanden sagen hören, die Wahrheit sei ein Grauschatten.“
Lee lächelte. „Oder ein brauner Schatten. Ich werde niemals vergessen, was du für mich getan hast. Du hast meine Perspektive erweitert und meinen Glauben gefestigt, als ich bitterlich zu zweifeln begann. Deinetwegen habe ich die Grundsätze meiner Religion überprüft, die ich niemals zuvor in Frage gestellt hatte, und ich habe erfahren, daß Jesus niemals so gehandelt hätte, wie ich es getan habe. Durch dich bin ich zu einem tiefen und persönlichen Verständnis Jesu Christi gekommen. Von nun an wird er immer bei mir sein; ich trage die Zeichen seiner Gegenwart. Ich weiß nun, daß man die Seele eines Menschen nicht nach seiner Rasse beurteilen kann – und ich werde tun, was ich kann, um diese Doktrin meiner Kirche zu ändern. Ja, ich werde sogar die Parabel vom Guten Nigger predigen – denn das bist du.“
„Danke“, sagte Bruder Paul, unsicher, ob er lächeln oder die Stirn runzeln sollte. Ebenso wie das herabwürdigende Wort ‚Schwarzer’ in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts für die Betroffenen zu einem Ausdruck des Stolzes geworden war, so war es mit ‚Nigger’ am Ende dieses Jahrhunderts geschehen. Das gleiche war früher mit dem Begriff ‚Quäker’ geschehen und würde sich ohne Zweifel in späteren Jahrhunderten wiederholen. Vielleicht würde eines Tages das Wort ‚Hölle’ ein Begriff für geistige Aufklärung werden. Vielleicht war dies schon geschehen.
„Und das bringt mich zu meinem unmittelbaren Problem mit dir“, fuhr Lee fort. „Deine Tochter hat also notwendigerweise ebenfalls schwarze Ahnen …“
„Carolyn? Sie ist nicht meine Tochter; in Wirklichkeit hat sie rote Ahnen. Der Swami war Indianer, kein Inder.“
„Oh?“ meinte Lee überrascht. „Die Mormonen haben Mitleid mit den amerikanischen Indianern, den Abkömmlingen der frühen israelitischen Kolonien Amerikas. Aber das ist unwichtig. Ich tue dies weder, um meine Vorurteilslosigkeit in rassischen Dingen zu zeigen, noch um es zu überprüfen. Ich erwähne dies lediglich, um klarzustellen, daß ich ohne dein Eingreifen nicht in der Lage gewesen wäre, darüber nachzudenken.“
„Über was nachzudenken warst du in der Lage?“ fragte Bruder Paul verwirrt.
„Die Rassenmischung bei den Menschen.“
„Ich bin heute morgen etwas langsam. Ich verstehe nicht ganz, was du …“
„Sie hat nun keinen Vater mehr außer dir, und daher muß ich nach den auf diesem Planeten geltenden Normen bei dir vorstellig werden, um …“
„Bitte hör auf“, sagte Bruder Paul gequält. „Ich habe keinerlei Autorität über Carolyn. Selbst ihr Name ist eine Schöpfung meiner Ignoranz; sie muß einen eigenen Namen tragen. Ich bin dabei, diesen Planeten zu verlassen.“
„Ja. Daher muß ich dich jetzt fragen, denn sie ist noch nicht volljährig und von fremdem Glauben. Ich würde diesen Glauben nicht wechseln, bin aber bereit, Kompromisse zu schließen in der Art, wie Pfarrer Siltz …“
Bruder Paul runzelte die Stirn. „Carolyn ist nicht volljährig für was?“
„Mein Herr“, sagte Lee förmlich. „Ich bitte demütig um die Erlaubnis, Ihre Tochter zu heiraten.“
Bruder Paul war so verdutzt, daß er nur ein Stottern herausbrachte. „Du … du …“
„Ich war unter anderem Herald der Heiler in der fernen Zukunft. Sie war Psyche. Plötzlich wußte ich, daß ich sie liebte und daß diese Liebe gewachsen war, seit sie den mutigen Entschluß gefaßt hatte, eine der Beobachterinnen zu werden, und daß ich sie haben muß, wenn auch die Hölle gegen diese Verbindung sein mag. Als ich sah, wie Großfuß sie umbringen wollte …“
Überwältigt von dem Wirrwarr seiner Gefühle, sprang Bruder Paul auf die Füße und lief hinaus.
Dort stand Carolyn, wie er es irgendwie erwartet hatte. Sie trug ein schmales, weißes Kleid, und das Haar war elegant geflochten und zu einer Krone aufgesteckt. Sie sah aus wie eine Feenprinzessin – und nicht wie ein Kind.
Einen Moment lang sah Bruder Paul Psyche, die sich in den schrecklichen Flammen wand, die geopferte Kindbraut, ein herzzerreißendes Bild, doch ein Hinweis auf die neue Realität. Kleine Mädchen wurden älter, und der Sprung vom zwölften zum dreizehnten Lebensjahr konnte riesig sein.
„Daddy!“ schrie sie und warf sich ihm in die Arme, ebenso wie es
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