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Die Herzen aller Mädchen

Titel: Die Herzen aller Mädchen
Autoren: Monika Geier
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hatte sie auch den größeren Umzug gespart, ihr eigener Hausrat moderte nur selten vermisst in einem Lagerraum in Mundenheim.
    Bettina war es plötzlich viel zu eng, raus, dachte sie und öffnete die Wohnungstür, aus dem ungefegten Treppenhaus zog es ihr feucht entgegen. Sie klemmte einen Schuh in den Türrahmen und setzte sich draußen auf die kalte Treppe, ohne Licht zu machen. Dann paffte sie und beobachtete die Glut, wie sie sich ins graue Zigarettenpapier fraß. Spontan hielt sie das glimmende Lichtlein von sich fort, wie um einen Heckenschützen um einen lächerlichen halben Meter zu täuschen. Und fröstelte. Sie wusste, dass sie umräumen musste, ausmisten, andere Bilder aufhängen, ihre eigene Musik hören, neue Kleidung und eigenes Geschirr besorgen. Aber wie sie es machen sollte, das wusste sie nicht. Sie hatte kein Italien, kein gelobtes Land. Ihre alten CDs hörten sich fad an gegen Barbas extravagante Sammlung. Sie kannte kein Bild, das sie aufhängen wollte, kein Buch, das sie berauschte. Sie hatte nichts. Aber alles in der Wohnung wegschmeißen und nicht ersetzen, das konnte sie auch nicht. Sie hielt es nicht aus, dieses viele Leben, das noch in den Räumen hing.
    Sie hielt es nicht aus.
    Die Zigarette verschmorte am Filter, die Kälte kroch aus der Treppe in Bettinas Beine. Sie musste wieder rein, sonst würde sie krank. Weiterleben. Fernsehen.
     
    Gregor Krampe, einziger Sohn des gefeierten Enfant terrible Georg Krampe, saß unter den Lichtern in der Runde illustrer Gäste, die er allesamt nicht kannte, und betrachtete Anna Oberhuber, Wahrsagerin, mutmaßliche Fränkin und Unruhestifterin. Links von ihm sprach eine unglaublich junge Tänzerin geziemend blasiert über ihre kürzlich gemachten Erfahrungen mit Polanski. Der war sogar Gregor ein Begriff, Tanz der Vampire gab es jetzt auch als Musical. Bei der Gelegenheit dämmerte ihm, dass er nicht allein als Platzhalter hier saß. Womöglich hatte man sie alle eingeladen, um den Glanz eines jeweils Größeren zu beschwören. Die Kleine neben ihm war Polanski, der Junge ohne Nachnamen (»Sebastian«) aus der Bloodhound- Boygroup stand vermutlich für irgendeinen mächtigen Musikproduzenten, der Sportreporter hatte unlängst eine DVD über den FC Bayern herausgebracht und der Koch bei Witzigmann gelernt. Er selbst war der Einfachheit halber direkt als »Sohn von« vorgestellt worden.
    Wen aber vertrat Anna Oberhuber? Auch seinen Vater? Das wäre der Ehre ja fast zu viel. Wie alt sie wohl war? Sie sah so freiluftgestählt aus. Fünfundvierzig? Um die fünfzig? Nicht ganz die Generation Georg Krampes, aber sie war eine Frau. Eine Geliebte? Wie mochte sie ausgesehen haben vor zwanzig, dreißig Jahren? Er konnte es sich nicht vorstellen. Nicht mit dieser Mütze, die ihr schönes, aber faltiges Gesicht entstellte. Und diesen hellen Augen. Wie hätte sein Vater sie beschrieben? Er versuchte, sich an alte Spitznamen zu erinnern, eine Bibi fiel ihm ein, eine Becky und eine Socks. Bibi kannte er, Becky war tot. Socks? Nein, entschied Gregor, Socks war in seiner Vorstellung eine dürre, elegante Frau, aschblond, in englischen Tweed gehüllt, vielleicht etwas zu große Zähne und auf jeden Fall lautes Lachen. Wenn diese Gebirgsbäuerin Socks war, dann war Großbritannien auch nur eine Erfindung der Filmindustrie.
    Er blickte in die kühlen Augen Anna Oberhubers und merkte, dass sie es genoss, von ihm beobachtet zu werden. Man hatte sie ihm direkt gegenüber platziert, getrennt nur durch Herrn Kachelmacher, einen der Moderatoren, um sie alle drei bequem mit einer einzigen Kamera abfilmen zu können, vermutlich. Ihre Interviews waren aufeinander folgend geplant, ziemlich am Ende der Sendung, aber nicht ganz zum Schluss, »der beste Platz«, hatte Janine Gregor noch zugeflüstert, bevor sie ihn in die Arena aus Lampen und Kameras entließ. Das hieß, sie wollten eine Auseinandersetzung. Showtime. Und er fühlte sich seltsamerweise fast entspannt. Ob dies das Erbe seines Vaters war, das nun, nach fast zwanzig Jahren hochseriöser wissenschaftlicher Germanistenkarriere, unerwartet durchbrach? War ihm das mitgegeben worden, die Lust am glamourösen Auftritt, am spontanen Kampf vor Publikum, am besten Platz?
    Und wieso eigentlich nicht?, dachte er, während er sich eine Zigarette anzündete, die Beine übereinanderschlug und dann fast lächelnd in seinen bequemen Sessel zurücksank.
    Es lag schon eine gewisse Komik darin, dass man ausgerechnet ihn unter falschem
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